Zu Grabe
schmuggeln, und die Bemühungen, sie zu übersetzen. »Jetzt mach es nicht so spannend! Ich will wissen, was auf dem vermaledeiten Ding draufsteht!«, schimpfte er leise und blätterte ungeduldig weiter.
Wien, 3. August 1975
Ich habe nun endlich Gewissheit, dass die geheimnisvolle Tafel jeden Moment meiner Lebenszeit, den ich in sie investiert, jeden Schweißtropfen, den ich vergossen, und jedes Risiko, das ich ihretwegen auf mich genommen habe, wert war.
Wenn die Übersetzung, die ich von der Inschrift angefertigt habe, tatsächlich stimmt, dann bin ich einer echten wissenschaftlichen Sensation auf der Spur – nämlich dem Grab von Alulim, dem mythischen Urvater des sumerischen Königsgeschlechts.
Durch eine großzügige Geste von Fortuna wurde mir diese wundervolle Tafel in die Hände gespielt, und ich werde nun alles daransetzen, diese einmalige Chance auf Ruhm und Ehre zu nutzen. Ich werde mich der Herausforderung stellen, das Abenteuer wagen, das Grab finden und mich damit in die Liste der großen archäologischen Entdecker, neben Howard Carter, Heinrich Schliemann und Sir Flinders Petrie, einreihen. Es gilt nun, die Worte richtig zu deuten und den Ort aufzuspüren, auf den sie hinweisen:
Unter dem schützenden Blick von Enkis eintausend Augen,
ruht Alulim, der Gesandte,
von seinen Treuen begleitet,
von Adapas Zauber geschützt.
Er ist das Gestern, er ist das Heute, er ist das Morgen,
er ist der endlose Himmel und der stürmische Wind,
die fruchtbare Erde und das tosende Wasser.
Wer es wagt, seine Ruhe zu stören,
wird durch Enkis Zorn vernichtet werden.
»Den Gestorbnen ist wohl! Dort sehn ich mich hin!
Sanft ruht sich’s im Grab, im finstren Gemach!«
Euripides, Alkestis
Selten war es Morell so schwergefallen, sich aus dem Bett zu quälen, wie an diesem Morgen. Nachdem er gestern endlich eingeschlafen war, hatte ihn sein unterzuckertes Unterbewusstsein direkt in ein Reich voller Einbalsamierungen, Enthauptungen und Höhlenbären katapultiert – kurz gesagt: Morell war von den schlimmsten Albträumen seit langem heimgesucht worden.
Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und seufzte. Es waren nicht nur die Diät und der Job in der Pietät, die ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherten, es gab da noch etwas, was sich in seine Träume geschlichen hatte, nämlich sein Anzug. Er hatte ihn vorsichtshalber eingepackt – man konnte ja nie wissen –, aber nicht damit gerechnet, dass er ihn tatsächlich brauchen würde.
Der Chefinspektor starrte den schwarzen Zweireiher an und überlegte, wann er ihn zuletzt getragen hatte. Bei der Hochzeit seiner Cousine? Bei der Taufe von Benders Nichte? Er holte tief Luft, zog den Bauch ein, sandte ein Stoßgebet gen Himmel und zog die Hose hoch. Keine Chance! Mit dem Sakko hatte er auch kein Glück. Es spannte an den Oberarmen und ließ sich vorne nicht mehr zuknöpfen. »So ein Mist«, murmelte er. Ein Blick auf die Uhr bestätigte die Befürchtung, dass keine Zeit für Selbstmitleid blieb. In weniger als 45 Minuten musste er bei seinem neuen Arbeitgeber sein.
»Kein Gejammer, keine Schwäche«, unterdrückte er einen Anflug von Lamento. »Nicht zurück in die alten Verhaltensmuster fallen!« Er atmete tief ein, schlüpfte in seine normalen Klamotten und holte aus dem Flur die Gelben Seiten. Nach wenigen Minuten hatte er gefunden, wonach er suchte: Ein Bekleidungsgeschäft für Herren, das auf dem Weg zum Bestattungsunternehmen lag.
Tatsächlich schaffte es Morell, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Er hatte den neuen Anzug gleich anbehalten und seine andere Kleidung in eine Plastiktüte gesteckt. Für ein Frühstück war keine Zeit mehr geblieben, aber da er ja auf Diät war, war das schon in Ordnung so.
»Ah, da sind Sie ja, Herr Reiter.« Eschener sah auf seine teure Armbanduhr und lächelte. »Pünktlich auf die Minute. Das lob’ ich mir, denn wie heißt es doch so schön: Pünktlichkeit ist der beste Beweis einer guten Erziehung.« Er überlegte kurz. »Am besten fangen Sie hier im Eingangsbereich mit Ihrer Arbeit an. Unsere Ausstellungsstücke müssen dringend wieder einmal auf Hochglanz poliert werden. Ich hole Ihnen gleich ein paar Staubtücher und Möbelpolitur. Danach können Sie dann die Totenhemden neu arrangieren und die Blumen gießen.«
Dem Chefinspektor fiel ein Stein vom Herzen. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, jegliche Arbeit widerstandslos und unaufgeregt zu erledigen, war er doch froh, dass seine
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