Zu Hause in Almanya
wollte ihm natürlich niemand glauben.
Das Fruchtfleisch der Feige war noch nicht ganz rot, aber es versprach, köstlich zu schmecken. Onkel Mehmet war stolz auf diese Feige, denn sie war die erste Frucht von einem Baum, den er selbst gepflanzt hatte. Es war nicht irgendein Baum, sondern der Sohn des Baumes, der in dem Garten seiner Heimat in der Türkei gestanden hatte, als er selbst noch ein Kind gewesen war. Dieser Baum war riesengroß und hatte viele geschwungene Äste, und wenn man ihn zur richtigen Zeit schüttelte, dann übergoss er einen mit einem Regen aus kleinen, weichen, duftenden Früchten.
Als Onkel Mehmet noch ein Junge war, hatte er einmal so viele Feigen gegessen, dass er Bauchschmerzen bekam und seine Mutter mit ihm schimpfte. »Hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, du sollst nicht so viele Feigen essen, Sohn? Das hast Du nun davon!«, hielt sie ihm vor, während sie nervös ihr Kopftuch zurechtzupfte und den Sohn auf den Diwan trug. Sie wusste, dass er ein kleiner Genießer war und einfach nicht genug bekommen konnte von den Früchten des Baumes, den er Baba nannte, also Vater. Oft kletterte er darauf so hoch er konnte, versteckte sich in den Ästen und beobachtete die Menschen im Dorf, während er genüsslich die Früchte verspeiste. Niemand konnte ihn zwischen den Ästen sehen, und nur sein Vater wusste, dass dies sein Lieblingsort war, aber er verriet seinen Sohn nie. Wenn jemand ihn suchte und nach ihm fragte, sagte der Vater einfach: »Ich weiß nicht, wo Mehmet ist«, und
dann schaute er unauffällig zum Baum hinüber und lächelte aus dem Mundwinkel.
Mehmet versuchte manchmal, den Stamm des Baumes zu umarmen, und eines Tages dachte er, dass dies fast so schön war, wie seinen Vater zu umarmen. Deshalb war der Baum von da an für ihn Agac Baba . Vater Baum.
Nachdem Mehmet erwachsen geworden und nach Deutschland ausgewandert war, kam er noch hin und wieder in sein Dorf zurück, um es zu besuchen. Eines Tages nahm er von dem alten Baum einige Feigen und beschloss, ihre Samen in seinen Garten in Duisburg zu pflanzen. Warum er das tat, darüber sagte er nichts. Alle ahnten etwas, aber niemand wollte darüber reden.
Der Garten von Onkel Mehmet in Duisburg war weit über die Stadt hinaus bekannt. Viele Menschen kamen im Sommer zu Besuch, nur um den Garten zu sehen, selbst wenn sie das nicht zugaben und sagten, sie seien gekommen, um Onkel Mehmet zu besuchen. Er wusste das, aber es machte ihm nichts aus. Er war stolz darauf, was er, seine Frau und seine Kinder jedes Jahr leisteten, damit der Zauber hinter dem Haus nicht verwelkte. Deshalb hieß er alle Gäste willkommen, und wenn das Wetter schön war, dann führte er sie hinter das Haus, in den Garten, wohin er selbst immer viele, viele Stunden lang verschwand.
Er hatte als Bergarbeiter auf der Zeche gearbeitet und war ein einfacher Mann. Er verdiente nicht viel Geld, machte keine Reisen in fremde Länder, hatte keine teuren Hobbys, trank keinen Alkohol und ging nicht in Kneipen. Seine Familie, sein Auto und eben dieser Garten waren seine ganze Freude.
Für die deutschen Nachbarn und Bekannten lag hinter dem Haus eine exotische Oase, über die sie jeden Sommer aufs Neue staunten. Sie entdeckten immer wieder neue Gewächse, die es noch vor wenigen Jahren in dieser Gegend nicht zu sehen
gegeben hatte. Für die Türken aber war es lebende Nostalgie. Auf jedem Fleckchen Erde blühten Erinnerungen an ihre Kindheit, Träume, die nie Wirklichkeit wurden, Hoffnungen, die an der Realität zerbrochen waren, Teile ihres Lebens, die für viele Menschen in diesem Land auf ewig unsichtbar bleiben würden. So wie Onkel Mehmet stammten die meisten von ihnen vom Lande. Sie waren aufgewachsen mit Blumen, die sprechen konnten, und Blättern, die tanzten, mit Käfern, die verhext waren, oder Katzen, die den bösen Blick hatten, mit singenden Bienen und turtelnden Tauben. All die vergessenen Erlebnisse ihrer Kindheit blühten in diesem Garten wieder auf, auch wenn niemand es je so hätte in Worte fassen können.
Und die Erinnerungen blühten nicht nur, sie dufteten und schmeckten auch und sie ließen sich fühlen und anschauen. Sie schaukelten im Wind, sie waren glücklich und drehten sich der Sonne zu oder sie wurden krank und brauchten Pflege. Sie hatten Durst und Hunger, man musste sie gießen und düngen, sie machten leise Geräusche, wenn sie aneinanderstießen, und vielleicht redeten sie auch miteinander. Wer weiß das schon so genau?
Der
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