Zu Hause in Almanya
deutschen Frauen wohlgemerkt, Türkinnen gab es noch nicht so viele.
Eines Tages, als Erol wie immer fleißig bei der Arbeit war, seine sehnsüchtigen, anatolischen Melodien sang und wie beiläufig in den Himmel sah, begriff er zunächst gar nicht, was er da sah. Schon wollte er seine Arbeit fortsetzen, als ihn die Erkenntnis traf, was dort vor sich ging, und es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Er blickte noch einmal nach oben in Richtung des großen Krans, dann nach unten, sah dort jemanden stehen und rief nur ganz laut »Allaaaah«, sprang auf, ohne noch einen einzigen Wimpernschlag lang zu zögern, und warf sich mit aller Kraft gegen den Kollegen, der sich genau unterhalb der Kranladung befand: Erwin, der Bergarbeitersohn.
Sie fielen beide zu Boden, Erwin schrie wie am Spieß, und im gleichen Moment hörte man einen ohrenbetäubenden Knall, als eine gigantische Ladung Stahl direkt neben ihnen aufschlug.
»Was hast du gemacht, Kumpel?«, fragte Erwin, während er verwirrt seinen blutenden Fuß anschaute und Erol sich mit kreidebleichem Gesicht aufrichtete.
»Alles klar, Kollege – inschallah , alles klar«, sagte Erol, und beide blickten auf den Krater, den Tonnen von Stahl in den Boden gebohrt hatten. Es war ein Wunder, dass Erwin mit einem blutenden Fuß davongekommen war. Fast alle hundert Arbeiter auf dem Gelände liefen hinzu, standen um sie herum und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Erwin legte seinem Kumpel den Arm um die Schultern und zog ihn an sich, und er weinte, ein wenig vor Schmerz, ein wenig vor Freude. Er versuchte aufzustehen, indem er sich auf Erols Schulter stützte, und sofort sprangen die Kollegen zur Hilfe. So einen Unfall hatten sie noch nicht erlebt und er hätte auch gar nicht erst passieren dürfen.
Erst allmählich erholten sich alle von dem Schock über diese Katastrophe, die jeden von ihnen hätte treffen können. Erol konnte nichts sagen in diesem Moment, und Erwin wollte nichts sagen. Er umarmte seinen Kollegen noch einmal, klopfte ihm auf den Rücken und sagte immer nur: »Danke, Kollege, danke!« Als der Krankenwagen ihn ins Hospital brachte, fuhr Erol mit, weil er sich für seinen Kumpel verantwortlich fühlte, und Erwin verspürte ein unaussprechliches Gefühl für diesen Fremden, als er blutend ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Von da an verband die beiden Männer eine innige Freundschaft.
Nachdem Erwin sich erholt hatte, lud er Erol zu sich nach Hause ein, um ihn seiner Familie vorzustellen. Erol zog seinen guten Anzug an und band sich eine Krawatte um, denn es war das erste Mal, dass er eine deutsche Familie besuchte. Er kaufte einen Blumenstrauß für Erwins Frau und brachte ein großes Stück Schafskäse für dessen Mutter mit. Den Käse hatte er sich von einem türkischen Freund schenken lassen, der ihn gerade aus dem Heimaturlaub mitgebracht hatte. Als er Erwins Wohnung betrat, wollte er seine Schuhe ausziehen, aber Erwin hielt ihn davon ab. »Nein, nein, Kollege, das brauchst du nicht!«, sagte er und Erol verstand es sehr gut. Er setzte sich auf die Wohnzimmercouch und schaute hin und wieder auf die Liste, die er sich in die Hosentasche gesteckt hatte.
» Ben Türkiye’den geliyorum = Ich komme aus der Türkei.«
» Ben iþ arkadaþýyým = Ich bin ein Arbeitskollege.« » Nasýlsýnýz hanýmefe ndi? = Wie geht es Ihnen, meine Dame?« Und so weiter und so fort. Danke schön, bitte schön, guten Tag, auf Wiedersehen, wie geht es Ihnen, mir geht es gut – das alles konnte er schon auswendig. Für einen Bauernsohn wie ihn, der noch nie in seinem Leben eine andere Sprache als die türkische gehört oder gesprochen hatte, war das schon sehr viel. Niemand in seinem Dorf kannte so viele fremde Wörter wie er, und dank seines neuen Freundes wurden es von Tag zu Tag mehr.
Es war nicht schwer mit Erwin, der noch nie viele Worte zur Verständigung gebraucht hatte. Er ließ seine Frau ein paar Stullen für den Gast machen, ohne Wurst, das hatte er schon gelernt, und schenkte ihm duftenden Kaffee ein. Die Kommunikation lief über das Gemüt. Es war schön, beisammenzusitzen, mit jemandem, der ihm das Leben gerettet hatte. Das an sich zu beschreiben, wäre mit Worten ohnehin unmöglich gewesen. Und für Erol war es schön, in diesem großen, fremden Land jemanden zu haben, der ihn schätzte. Es wäre nicht klug gewesen, diese schöne Verbundenheit durch Worte einzugrenzen. Und welche Worte hätten schon ausgereicht, um das alles zu beschreiben? Wurden doch
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