Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
»Wenn ich meinen Erinnerungen nachhänge, gehe ich über einen Friedhof.«
Mir schien, was er da sagte, sehr traurig zu sein, aber bei einem fünfundsechzigjährigen Greis durchaus verständlich. Junge Menschen sind manchmal ein bißchen grausam.
Solange ich in Versailles lebte, nützte ich die Zugfahrt aus Paris oft dazu, die Erlebnisse des Tages noch einmal an mir vorbeiziehen zu lassen. Wenn ich meine Mansarde im Hotel Moderne erreichte, war dann schon meistens ein wenig Ordnung in meinem Kopf. Auf dem Montparnasse angesiedelt, entbehrte ich diese Besinnungspause.
Eines Tages brach dann wirklich der befürchtete Krieg aus. Fast jeden Abend gab es von da an Flugalarm. Unser kleines Haus besaß keinen Luftschutzkeller, überdies waren wir alle Ausländer, und das war ungewöhnlich und ein bißchen auffallend in der kurzen Straße. Deshalb wurde beschlossen, bei Alarm die Luftschutzeinrichtung im nahen Jardin du Luxembourg aufzusuchen. Unauffällig waren wir freilich auch dort nicht. Wir bedienten uns einer fremden Sprache, und unser Französisch war bestenfalls fremd klingend. Antonín Pelc wurde jedoch bald richtig beliebt, denn er malte für die verschreckten Kinder im »abri« lustige Tierchen und komische Figürchen mit Kohle an die häßliche Kellerwand. Dennoch ...
Eines Morgens saßen wir beim Frühstück und lauschten Bedŕich Smetanas Tondichtung »Mein Vaterland«, die der französische Rundfunk gerade ausstrahlte, waren von den vertrauten Klängen tief berührt, als plötzlich das kleine Gartentor knarrte, im nächsten Augenblick die Haustür aufflog und einige Männer in unser Eßzimmer stürmten. Ehe ich einen Bissen hinunterschlucken konnte, waren wir verhaftet, wurden so, wie wir da saßen, in ein Polizeiautogeschubst und abtransportiert. Auf unsere Erklärung fordernden Fragen und heftigen Proteste gab es nur eine Antwort: »Im Namen des Gesetzes, Hände hoch!«
Aus war der Traum vom Zusammenleben einer produktiven Emigrantengemeinschaft, vom aktiven Beitrag für Frankreichs Kampf gegen den gemeinsamen Feind. In meinem Kopf ergab sich ein tolles Durcheinander. Kein Gedanke war imstande, mir vernünftig zu erklären, was da plötzlich los war (weil es ja auch völlig unvernünftig war). Man schaukelte uns gegen unseren Willen durch das morgendliche Paris, vorbei an den vollbesetzten Kaffeehausterrassen, vorbei an dem Blumenstand, wo ich mir manchmal ein paar Blumen kaufte, vorbei an dem Laden, in dem ich mit Hoffmeister Ziegenkäse für unsere ganze Belegschaft einholen ging. Ahnte jemand, wer da in dem grünen Kasten abtransportiert und im Polizeipräsidium abgeladen wurde?
Welche Erlebnisse waren für dich bestimmend, Virginia? Wer oder was hat dich gründlich aus dem Geleise geworfen? Aller Wahrscheinlichkeit nach würdest du solche Fragen von dir weisen. Aber wovon ich nun erzählen will, das könnte vielleicht dein Interesse wecken, denn ich weiß, was es bedeutet, ganz unten zu landen, und wie schwer es ist, sich aus diesem ganz Unten wieder aufzurappeln. Schau bitte nicht weg, Virginia, wenn ich dir manchmal zulächle. Ich tue es nicht aus Mitleid, eher aus einer Art Verbundenheit, so merkwürdig das auch klingen mag.
Gleich den einzelnen Fensterchen auf einem Filmstreifen ziehen in meinem Gedächtnis die fast ausnahmslos verblüffenden Szenen der ersten Stunden meiner französischen Haft vorbei. Die Nächte auf dem Polizeikommissariat Cherche-Midi mit dem ständig wachsenden Haufen auf den Straßen festgenommener Prostituierter, denen der amtliche Stempel auf ihrer gelben Karte fehlte. Dann die Nacht im Keller unter der Préfecture auf dem mit Zeitungspapierbedeckten Kohlenhaufen, wo ich mit meinen männlichen Hausgenossen ein ebenso herzliches wie kurzes Wiedersehen feierte. Die unsinnigen, geradezu kopflosen Verhöre bei einem nervösen Polizeikommissar und schließlich die demütigenden Aufnahmeprozeduren im Frauengefängnis La Petite Roquette. Dort wurde mir eine Zelle zugeteilt.
»Hier bleiben Sie jetzt«, und eine Tür fiel hinter mir krachend ins Schloß.
Hier mußte ich also vorerst bleiben.
Kann in einer aufgezwungenen Behausung überhaupt von Wohnen die Rede sein? Wohnt ein Vogel in seinem Käfig, selbst wenn der blitzblank geputzt in einer blitzblanken Küche steht? Wohnt ein Löwe in seinem nach allen Regeln fachlich ausgerüsteten und bemessenen Auslauf im Zoo? Kann man wohnen, wenn einem seine natürliche Freiheit genommen wurde? Manchmal muß man es, ob man will oder
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