Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Fußboden allerdings eine Überschwemmung zur Folge hatte.
Und so wurde unsere kleine Anna weiterhin in der Blechschüssel gewaschen, bis mir eines Tages jemand aus Prag eine Kinderwanne mitbrachte.
Diese unsere erste Behausung in Belgrad befand sich in einem Eckhaus, dessen eine Front auf den Hauptplatz Terazije ausgerichtet war. Das Fenster in unserem Zimmer führte jedoch in die abzweigende Seitenavenue. Am 1. Mai, dem Feiertag der Arbeit, der in Titos Jugoslawien groß gefeiert wurde, nahm Balk mit seinem Filmbetrieb am Aufmarsch teil. Ich blieb mit meinem noch keine zwei Monate alten Töchterchen zu Hause. Um sechs Uhr früh, die Feier auf dem Terazije-Platz war für zehn Uhr angesetzt, polterte jemand an unserer Zimmertür, und noch ehe ich nachsehen konnte, was denn los war, ging sie auch schon auf. Ein Mann in Uniform trat ein und gebot mir, mit dem Kind den Raum zu verlassen. Ich fragte überrascht, warum, er sagte, Befehl ist Befehl, und ich solle mich beeilen. Ich erklärte, ich bleibe, wo ich bin, rührte mich nicht von derStelle und wollte wissen, warum man von mir etwas so Unsinniges verlange. Meine Aussprache machte deutlich, daß ich Ausländerin war, wohl deshalb erschien auch noch ein Offizier. Der teilte mir mit, es handle sich um eine undiskutable Sicherheitsmaßnahme; man erwarte den Marschall bei der Kundgebung auf dem Terazije-Platz.
»Ja gut, aber unser Fenster geht doch in die andere Straße«, ich staunte, »und welche Gefahr stellen wir dar, mein Wickelkind und ich?«
Die beiden Uniformierten waren durch mein Verhalten nicht weniger verblüfft als ich durch das ihre. Sie flüsterten miteinander, dann verschwand der eine und kam gleich wieder mit einem weiteren Soldaten zurück, der eine Maschinenpistole umgehängt hatte.
»Der Genosse bleibt bei Ihnen«, eröffnete mir der Offizier. »Sie können hierbleiben, aber nähern Sie sich keinesfalls dem Fenster. Das gilt auch für das Kind.«
Mein Kind, sechs Wochen alt, krähte vergnügt im Wäschekorb, in dem es sein Nest hatte, hielt die Eindringlinge anscheinend für liebe Besucher. Ich setzte mich zu ihm, der Soldat mit der Maschinenpistole postierte sich mit dem Rücken zum Fenster, seine Waffe war auf uns gerichtet, und so verging der ganze Vormittag. Von der Straße drang lebhaftes Skandieren zu uns herauf: Živeo drug Tito! Es lebe Genosse Tito! Dagegen hatte ich nichts, aber bestimmte Gefühle begannen an jenem Tag in mir zu rumoren. So sah meine erste Maifeier im befreiten Europa aus. Ihre Absurdität schrieb ich den noch chaotischen Zuständen kurz nach Kriegsende zu, »begreiflichem Mißtrauen und notwendiger Vorsicht«, wie ich allseitig als Begründung für die wahnwitzige Maßnahme zu hören bekam. Schließlich auch den für mich fremden und ungewohnt rauhen Lebensgewohnheiten auf dem Balkan.
Auf Unverständliches stieß ich hier immer wieder. Im Rundfunk, meiner Arbeitsstätte, ersuchte ich einmal einen Kollegen, mir in sein Manuskript Einblick zu gewähren, das Angaben enthielt, die ich für einen Kommentar brauchte.
»Du findest es im ersten Schubfach links in meinem Schreibtisch«, sagte er, »entnimm ihm, was du brauchst.«
Als ich in seinem Arbeitstisch das erste Schubfach links öffnete, lag kein Manuskript, vielmehr neben einem Lederetui ein schwarzer, wie mir schien, sehr großer Revolver vor mir. Erschrocken stieß ich das Fach gleich wieder zu und beschloß, meinen Kommentar ohne die gesuchten Angaben zu beenden.
»Warum hast du in deinem Schreibtisch einen Revolver?« fragte ich den Kollegen am nächsten Tag so beiläufig, wie ich es fertigbrachte.
»Und warum nicht?« erwiderte er.
Nun ja, warum nicht.
Was hast du getan, ehe du dich auf dem Treppenabsatz hinter der Royal Festival Hall etabliert hast, Virginia? Irgendwie mußt du doch deine Tage verbracht haben. Kann bei dir alles schon vom Anfang an verfahren gewesen sein, oder ist erst später eine Pechsträhne über dich hereingebrochen? Hast du früher einmal gern gelesen, bist du manchmal ins Kino gegangen, oder hast du irgendwo vor dem Bildschirm gehockt? Weißt du, wie London ausgesehen hat, als du hier auf die Welt gekommen bist, ist das anderswo gewesen, oder ist dir das alles ganz egal? Ich frage danach, weil meine Erfahrungen ja nur ein Ausschnitt aus unserer Zeit sind und weil ich glaube, daß solche kleinen Erlebnisse vielleicht die großen Ereignisse, die fatalen Irrtümer, die Hoffnungen und Enttäuschungen, das ganze Chaos in unseren Köpfen
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