Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
und versuchte zu lächeln.
Träume ich? fuhr es Michal durch den Kopf. Ein Indianer!
»Bon soir, docteur!« Eine tiefe, auch im Flüsterton kraftvolle Stimme.
»Bon soir.« Michal Racek mußte gegen die Stimmung ankämpfen, die ihn gleich beim Betreten des Hauses befallen hatte. Aber jetzt war Romantik nicht am Platz. Vor ihm lag ein Kranker, und man hatte ihn gerufen, damit er ihm helfe. Er holte aus dem Etui seine Instrumente hervor und untersuchte seinen ungewöhnlichen Patienten sorgfältig und gründlich, fand auf dem abgemagerten Körper schnell die schmerzhafte Stelle. Er prüfte die Temperatur, das Herz und den Blutdruck. Die Diagnose war ziemlich eindeutig.
»Offenbar ein Magengeschwür«, flüsterte Dr. Racek Mirek zu, der in angstvoller Spannung jede seiner Bewegungen beobachtete. »Das Herz ist soweit in Ordnung, aber er ist sehr schwach. Zum Glück habe ich ein schmerzstillendes Medikament bei mir. Das gebe ich ihm erst einmal, und dann können wir besprechen, was weiter geschehen soll. Eine unmittelbare Krise ist kaum zu befürchten. Könnte ich ein wenig abgekochtes Wasser bekommen?«
Mirek nickte und verschwand. Michal bereitete seine Injektionsspritze vor, dann setzte er sich in den kaputten Lehnstuhl und wartete.
»Sie sind Tscheche, Doktor?« fragte der Kranke mit einemmal im Flüsterton französisch, ohne die Augen zu öffnen.
»Ja. Darinka hat mich zu Ihnen gebracht.«
Der Mann schwieg. Erst nach ein paar Minuten fuhr er fort: »Ich habe nicht gehört, was Sie Mirek gesagt haben, bitte Sie aber um eins: Verlangen Sie nicht, daß man mich in ein Krankenhaus bringt oder etwas Ähnliches. Das wäre viel zu schwierig. Trotzdem würden es meine Freunde tun,und das will ich auf keinen Fall. Ich werde auch hier gesund, wenn Sie mir dabei ein bißchen helfen. Versprechen Sie mir nur, von meinen Freunden nichts Unmögliches zu fordern.«
Er verstummte erschöpft. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
»Sie dürfen nicht so viel reden. Und haben Sie keine Angst«, beruhigte ihn Michal. »Wir werden schon einen Ausweg finden.«
»Ist es ein Magengeschwür?« flüsterte der Kranke.
»Ja. Aller Wahrscheinlichkeit nach.«
»Bestimmt, Doktor, ich habe das schon lange.«
»Schon aus Brasilien?«
»Ja. Seit dem Aufstand.«
Schon lange, seit dem Aufstand. Wie sollte er das verstehen? Wie lange und was für ein Aufstand? Warum hat er stattgefunden? Michal Racek wurde unruhig. Er war doch gekommen, um Darinka zu helfen, was hatte das mit einem Aufstand wer weiß wo und wer weiß warum gemein? Wer waren überhaupt die verschiedenartigen Menschen, die dieses Haus bewohnten? Er war an seiner Verlassenheit beinahe zugrunde gegangen, und hier, am Rande von Marseille, gab es eine Gemeinschaft, offenbar einen Hafen, in dem diese Männer und Frauen, auch Darinka, einander eine relative, jedoch fühlbare Sicherheit gewährten, ungeachtet der Gefahr, die hier geradezu in der Luft lag, gegenwärtig in jedem Blick. Aber er, Michal, war ja nur ein Außenseiter mit einem Ticket nach den USA in der Brusttasche.
Der Kranke auf dem schmalen Sofa stöhnte. Doktor Racek riß sich zusammen. Er war Arzt, konnte in dieser Stunde endlich wieder einmal Arzt sein. Das allein war entscheidend.
Die Tür ging leise auf, und Miriam trat ein, gefolgt von Mirek. Der trug ein bedecktes Gefäß mit heißem Wasser. Behutsam stellte er es auf den Fußboden. Miriam ging zum Sofa. Sie beugte sich über den Kranken, legte ihm die Handauf die Stirn und flüsterte ihm etwas zu. Diego öffnete die Augen und brachte ein beruhigendes Lächeln zustande.
»Todo va bien, Miriam«, sagte er leise. »Alles ist in Ordnung.«
Sie faßte nach seiner fiebrigen Hand und blieb bei ihm stehen. Selbst als die Nadel des Arztes in seinen Arm eindrang, ließ sie die Hand nicht los.
»Jetzt werden Sie schlafen«, sagte Michal Racek, als er fertig war. »In einer Weile sehe ich wieder nach Ihnen.«
»Muchas gracias.«
Sie drückten einander die Hand. Miriam rührte sich nicht. Als Michal die Tür hinter sich zuzog, spürte er plötzlich den Duft der dunklen Rosen.
Über die knarrende Treppe gelangte er in das Zimmer gegenüber der Küche. Bei seinem Eintritt stockte dort die Unterhaltung, und alle blickten ihn an.
»Nun?«
Er hatte nicht so viele Menschen erwartet. Lotte und Pavel waren da, Darinka, ein älterer Mann mit gefurchter Stirn, drei jüngere und eine Frau unbestimmten Alters mit einem auffallend blassen Gesicht. Sie war es, die noch
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