Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Jacken Hosen mit strammen Bügelfalten, Hemden mit Krawatten und Jackett. Hanna unterschied sich mit ihrem bunten Rock und der hellen Bluse nicht von den übrigen Tagen und war wieder einmal »anders«. Sie gehörte freilich auch zu den wenigen, die nicht in die nahe Kirche eilten.
Ihre gutherzige Tischnachbarin führte im Laufe der Woche im Speisesaal fast jedesmal ein neues Kleidungsstück vor. Als Hanna ein besonders elegantes Kleid bewunderte, sagte die Frau:
»Sie müssen wissen, ich lebe in einem kleinen Ort. Der Laden, in dem ich einholen gehe, befindet sich nur ein paar Häuser weiter von meiner Wohnung, am Ende unserer Straße. Ich bin Rentnerin, sitze meistens zu Hause oder auf dem Balkon, und seit mein Mann gestorben ist, gehe ich nicht einmal mehr ins Kino, habe ja auch meine Fernsehkiste. Und so schleppe ich meine ganze Garderobe mitzur Kur, will noch ein bißchen nett aussehen, wenn ich unter die Leute komme.«
»Sie wollen sich doch nicht etwa entschuldigen?« sagte Hanna lachend. »Ich finde es prima, daß ich eine so hübsch aussehende Tischnachbarin habe.«
Daß ihr die Frau mit dem wahrscheinlich ungewollten Geständnis ihrer Einsamkeit aufrichtig leid tat, gab sie nicht zu erkennen.
Schließlich näherte sich der Tag ihrer Abreise. Hanna dachte ans Packen, dabei bedauerte sie plötzlich beinahe, das Zimmer ohne Telefon und Klingel aufzugeben. Trotz dieser Mängel hatte sie sich hier wohl gefühlt.
Zwischen dem letzten Wirbelbad und der letzten Massage hatte sie noch einen ihrer »Lieblingsmärsche« eingeplant. Die begannen in der einzigen Straße des Ortes, die aber nur ganz kurz war: eine Papierhandlung, ein Lebensmittelgeschäft, ein Zeitungskiosk, eine Bierkneipe, eine Gastwirtschaft »voll belegt«, wie eine Tafel vor dem Hauseingang verkündete. Und dann nur mehr Wiesen zu beiden Seiten, ein naher Wald, ein beträchtliches Stück weiter Heckenrosen mit laut summendem Bienengeschwirr, im Straßengraben ein stattlicher Ameisenhaufen. Ein Wegweiser wies in die Richtung des Dorfes, in dem in jener Nacht die zwei historisch wertvollen Bauernhäuser gebrannt hatten. Hanna schlug ein gutes Tempo an und freute sich, daß der Kuraufenthalt mit dem lückenlos geplanten Computerprogramm offenbar nicht vergeblich war, daß ihr Herz mit ihr Schritt hielt.
An einer Stelle kam der Wald zwischen den sanft gewellten Wiesen bis an die Landstraße heran. Dort stand eine Bank, von der man weit in die Gegend blicken konnte. Hier legte Hanna immer eine Marschpause ein. Neben der Bank ragte ein verwitterter Stein aus dem Gras, den sie ursprünglich für den verwahrlosten Sockel eines inzwischen abhanden gekommenen Kreuzes gehalten hatte. Aber nach vier Wochen in dem Kurhaus wußte sie nun besser Bescheid. Dieser Stein war ...
Etwas raschelte am Waldrand. Zweige knackten, eine Lerche flog aufgescheucht laut trillernd in unerreichbare Höhe. Hanna sah gespannt, auch ein wenig beunruhigt, wie jemand behutsam das niedrige Geäst auseinanderschob. Dann zeigten sich Männerbeine, sie bekam Herzklopfen und mußte daran denken, daß man sie gewarnt hatte, nicht allein in der Gegend und schon gar nicht im Wald herumzustreifen. Der Mann, der sich vorsichtig aus dem Nadelgehölz herausarbeitete, war anscheinend nicht von großer Gestalt, zweifellos jedoch von erheblicher Ausdauer. Sie sah nur seinen Rücken und die kräftig arbeitenden Arme. Jetzt bogen die das letzte Gestrüpp beiseite, der Mann wandte sich um ...
»Herr Pokorny!« rief Hanna erleichtert. »Ich hatte schon Angst, ob mich da nicht jemand überfallen will.«
Der Mann blieb, gleichfalls überrascht, verlegen stehen.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie erschreckt habe. Ich habe hier noch nie jemanden getroffen.«
»Da gibt es doch nichts zu verzeihen. Wollen Sie sich nicht ein wenig setzen?« Sie rückte auf der Bank beiseite. »Platz genug.«
»Danke. Nur für ein paar Minuten.«
Um sich zu setzen, mußte Rudolf Pokorny den sonderbaren Stein umgehen. Dabei achtete er ängstlich darauf, ihn nicht zu berühren oder gar umzustoßen, was übrigens kaum möglich war.
»Wissen Sie, was der bedeutet?« fragte Hanna.
»Dieser Stein?«
»Ja. Ich wußte es auch nicht, dachte, daß hier früher einmal ein Kreuz errichtet war, wie das an Stellen getan wird, wo jemand vom Blitz getroffen wurde oder sonst irgendwie ums Leben gekommen ist. Aber man hat mir erzählt, daß in dieser Gegend Versöhnungssteine zu finden sind. Eine Besonderheit, die man nur selten
Weitere Kostenlose Bücher