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Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo

Titel: Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerova
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antrifft.«
    »Versöhnungssteine?«
    »Sonderbar, nicht? Jedenfalls wird es so erzählt. Wenn sich in diesem Landstrich in alten Zeiten jemand etwas sehrSchlimmes zuschulden kommen ließ, etwa eine Brandstiftung oder gar einen Totschlag, kam er vor ein Dorfgericht, und wenn er bis dahin unbescholten war und die Tat eher als ein Unglück denn als Verbrechen angesehen wurde, mußte er, um in der Gemeinschaft weiterleben zu können, einen Versöhnungsstein aufstellen. Manchmal mußte er auch eine besondere Kleidung tragen, damit man ihn als Missetäter erkannte. Das Ganze klingt kurios, aber so irgendwie hat man es mir erklärt und auch ein Buch darüber gezeigt. Mir gefällt diese Legende. Die Versöhnungssteine wurden oft auch schlicht verziert, mit einem Kreuz oder sonst einem symbolischen Zeichen. Einer steht übrigens am Rande des Kurparks.«
    Der Mann mit dem halben Gesicht holte aus der Rocktasche eine Drahtbrille hervor, setzte sie auf und betrachtete den Stein zu seinen Füßen.
    »Da ist kein Kreuz darauf«, sagte er, »nur ein Halbkreis oder Bogen. Auch kein Name.«
    »Namen durften nicht festgehalten werden«, bemerkte Hanna. »Aber vielleicht ist dieses Stück hier am Rande des Waldes gar kein Versöhnungsstein, wer weiß. – Ich muß jetzt gehen, ich fahre nämlich morgen weg. Gehen Sie auch schon zurück, Herr Pokorny?«
    »Sie fahren morgen weg? Schon nach Hause?«
    Blickte er erschrocken auf? Aus seinem verunstalteten Gesicht konnte das Hanna nicht ablesen.
    »Ja. Mein Kuraufenthalt ist zu Ende. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten, Herr Pokorny, wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute. Vielleicht begegnen wir einander wieder einmal irgendwo.«
    Der Mann blieb sitzen, senkte nur noch tiefer den Kopf und murmelte:
    »Wo denn? Wie denn? Ist doch alles Unsinn. Leben Sie wohl.«
    Hanna kehrte in das Kurhaus zurück. Am nächsten Tag trug sie ihre Sachen endgültig aus dem Zimmer ohne Telefon und Klingel, brachte sie in der braun getäfelten Empfangshalleunter und ging in den Speisesaal zu ihrem letzten Mittagessen vor der Abreise. Das Knäuel wild schnatternder Damen war am Vortag abgefahren, überhaupt lichteten sich am Ende des Sommers die bis dahin dichtbesetzten Tischreihen merklich. Die himmelblaue Dame war noch da, an diesem Tag jedoch, wohl wegen des schon kühleren Morgens, führte sie ein elegantes, blütenweißes Flanellkostüm mit einer künstlichen Orchidee im Knopfloch vor.
    »Aufgeblasen wie immer«, schimpfte die gutherzige Frau an Hannas Tisch. »Sie werden mir fehlen in meiner letzten Woche, die ich noch hier sein muß. Wissen Sie, wen man mir jetzt statt Ihrer zugeteilt hat? Eine Lehrerin!«
    »Das ist doch nicht schlecht«, warf Hanna begütigend ein, »da haben Sie wenigstens jemanden zum Plaudern.«
    »Sie haben sie noch nicht gesehen«, seufzte die Frau, »die wird mich bestenfalls belehren. Langweilig scheint sie auch zu sein, ein Stück Holz wirkt munterer.«
    »Na, na, Sie werden die wenigen Tage schon mit ihr zurechtkommen. An mich mußten Sie sich ja auch erst gewöhnen.«
    Da legte die Frau ihre kleine Hand mit dem massiven Ehering auf Hannas Arm und sagte:
    »Das war anders. Ich war verlegen oder dumm, Gott weiß. Und dann habe ich mich auf jede Mahlzeit mit Ihnen gefreut, besonders als wir an dem Tisch allein geblieben sind. Das habe ich auch meinen Söhnen gesagt, als sie mich hier besucht haben. Und Sie müssen mir Ihre Adresse geben, ja?«
    Hanna versprach es und sah sich in dem Saal um. Rudolf Pokornys Platz war leer. Sollte er auch schon abgefahren sein, ohne das bei ihrem letzten Zusammentreffen auch nur erwähnt zu haben?
    Nach dem Essen mußte Hanna nur noch darauf warten, von Freunden mit einem Auto abgeholt und nach Hause gebracht zu werden. Sie ließ sich in einem der bequemen gepolsterten Stühle in der Empfangshalle nieder, beobachtetedas Auf und Ab der Menschen, erkannte zwischen den längst vertrauten Personen die nervösen oder gar ängstlichen Gesichter der Neuankömmlinge, mußte über sich selbst lachen, weil sie sich geradezu wie ein erfahrener Kurgast vorkam. Als eine Krankenschwester und seine Frau den gelähmten, aber doch schon ein bißchen beweglicheren Mann zu seinem täglichen Spaziergang durch die Halle bugsierten und als er neben ihrem Sessel die Reisetasche sah, blieb er plötzlich stehen, wandte den Kopf in Hannas Richtung, verzog sein intelligentes Gesicht zu dem Versuch eines Lächelns und stieß ein paar gutturale Grußlaute hervor.
    Hanna

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