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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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Treppe vom Bahnsteig hinuntergegangen und außer Sicht. Zum ersten Mal seit heute Morgen sah auch Jutta unsicher und verstört aus. Sie hielt meine linke Hand fest umklammert. In der anderen hatte ich unseren Koffer und Kurtis Kekstüte. Außer Jutta und mir musste noch ein drittes Mädchen, das Hannelore hieß und in meinem Alter war, einer jungen Frau folgen. Mit ihr fuhren wir im Zug noch das letzte Stück bis Amsterdam.

    Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Wir liefen vom hellen Bahnhof aus in immer dunklere Straßen. Hannelore hielt sich dicht neben mir und Jutta. Keine sprach ein Wort. Wir liefen und liefen, es war kalt und dunkel und ich dachte schon, bald muss Amsterdam zu Ende sein, aber da waren wir wohl endlich angekommen. Eine eher ärmliche Gegend, fand ich, jedenfalls im Vergleich zum Röderbergweg in Frankfurt.
    Â»Rapenburgerstraat«, sagte die Frau, die uns führte, und zeigte auf ein Straßenschild. Kurz darauf blieben wir vor einem alten dreistöckigen Gebäude stehen. Das unterste Stockwerk hatte ungeheuer hohe Fenster. Mit jedem Stockwerk darüber wurden die Fenster kleiner. Erst dachte ich, dass wir in das Haus hineingehen sollten, denn die Frau stand einen Moment unschlüssig davor. Dann zog sie aber an einer Glocke des Nebenhauses. Die Tür sprang auf und sie winkte uns herein. Hannelore, Jutta und ich kletterten steile Treppen hoch, bis wir ganz oben in einer abgetrennten Wohnung ankamen.
    Hier sprach uns zum ersten Mal eine andere junge Frau auf Deutsch an: »Das hier ist nur für eine Woche, zur Quarantäne. Damit wir herausbekommen, ob ihr eine ansteckende Krankheit habt.« Ich hatte das Fremdwort noch nie gehört und war mir nicht sicher, ob es eine Beleidigung bedeutete. Aber diese junge Frau schaute freundlich und immerhin bekamen wir jeder einen Becher heißen Tee und ein Stück Brot mit Käse. Hannelore liefen dauernd Tränen übers Gesicht. Jutta sah aus, als würde sie auch gleich anfangen zu heulen. Wir schauten einander stumm und ratlos an. Dann bekamen
wir ein Bett zugewiesen. Ich habe sonst keine Erinnerung an diesen ersten Abend in Holland. Nur, dass ich noch aufpasste, wo Jutta war und dass wir bloß nicht getrennt wurden. Obwohl es noch nicht spät sein konnte, müssen wir dann vor Erschöpfung bald eingeschlafen sein.
    Â 
    Am nächsten Morgen wusste ich erst gar nicht, wo ich war. Erst allmählich wurde mir bewusst, wie weit wir weg waren von daheim und dass Jutta und ich ganz allein waren. So allein. Nach dem Frühstück durfte jeder, der wollte, eine Karte nach Frankfurt schreiben. Ich schrieb:
    Â 
    Liebe Mama!
    Wir sind gut angekommen in Holland. Die Fahrt war sehr schön. Immer am Rhein entlang. Die Leute hier sind sehr nett. Auch das Essen ist gut. Bitte mach dir keine Sorgen.
    Liebe Grüße von deiner Cilly.
    Â 
    Und Jutta kritzelte auch noch irgendeinen Satz dazu. Das war natürlich alles gelogen. Die Fahrt über hatte ich mich nur elend gefühlt, zum Rhein hatte ich gar nicht hingeschaut, und von dem Essen ganz zu schweigen. Wahrscheinlich wollte ich Mutter einfach nur beruhigen. Denn ich dachte, genau so eine Karte würde sie vermutlich am meisten freuen. Dann fragte ich die junge Frau, ob ich noch eine zweite Karte schreiben durfte.
    Â»Auch nach Frankfurt?«
    Â»Nein, hier nach Amsterdam.«

    Â»Habt ihr Bekannte hier?«
    Â»Das wissen wir noch nicht. Deshalb würde ich gern schreiben.«
    An Mutters Freundin von früher schrieb ich:
    Â 
    Liebe Frau Javitz!
    Ich soll Ihnen schöne Grüße von meiner Mutter, Regina Levitus, aus Frankfurt bestellen. Gestern sind meine jüngere Schwester Jutta und ich hier im Mädchen-Waisenhaus angekommen. Vielleicht dürfen wir Sie einmal besuchen?
    Â 
    Wenig später kam eine ältere Frau zu uns und gab uns Besen und Putzlappen in die Hand und sagte: »Hier, du die Treppe!« Dabei wies sie auf mich. Und zu Jutta meinte sie: »Du die Schränke!« Auch Hannelore bekam einen Lappen in die Hand gedrückt. Das kannten wir vom Frankfurter Heim nicht, wo wir immer verwöhnt worden waren. Nun war ja auch eigentlich nichts dabei, hier beim Saubermachen mitzuhelfen. So war es wohl einfach die Anspannung, dass ich plötzlich nicht anders konnte, als Jutta den Lappen aus der Hand zu nehmen und empört zu rufen: »Meine Schwester ist erst zehn. Die braucht noch nicht zu putzen!« Und

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