Zu keinem ein Wort
heulen. Jutta hatte meine Hand gepackt und flüsterte mir zu: »Wir weinen nicht, ja?«
Plötzlich kam eines der Mädchen zurück und sprach uns auf Deutsch an: »Ihr kommt aus Deutschland? Mein Vater ist auch Deutscher!«
»Meiner nicht«, sagte ich. »Aber wir kommen aus Deutschland. Wohnst du hier?«
»Ja.« Sie gab jedem von uns die Hand. »Ich heiÃe Rosa.«
Es tat gut, endlich einmal persönlich angesprochen zu werden. Wir nannten unsere Namen und schüttelten Rosa erneut die Hand.
Rosa war etwa in meinem Alter. »Kommt mal mit!«, rief sie dann. »Ich zeige euch alles.«
HEIMWEH
Rosa ging mit uns durch einen Raum, der links vom Eingangsbereich abging und zu den Garderoben führte. Das Erste, was mir auffiel, waren die vielen Kleiderhaken auf dem ewig langen Flur, voll gehängt mit lauter schwarzen Mänteln und Mützen. Auch Rosa war wie zu einer Beerdigung gekleidet, sie trug ein graues Wollkleid über langen schwarzen Strümpfen und schwarzen Stiefeln.
»Müsst ihr immer so herumlaufen?«, fragte ich leise.
Rosa verzog das Gesicht. »Ja, immer. Im Sommer ist es noch viel schlimmer, wennâs richtig heià ist.« Ich schaute entsetzt auf ihre Wollstrümpfe.
Bei der Garderobe stellte ich unseren Koffer ab und Hannelore legte ihren Rucksack daneben. Dann liefen wir zurück in die Vorhalle. Dort klopfte Rosa vorsichtig gegen eine dunkle Holztür. Von drinnen antwortete eine tiefe Frauenstimme, die mir irgendwie bekannt vorkam. Rosa drehte den Knopf und öffnete vorsichtig die Tür. Sie schaute sich nach uns um und winkte uns hinter sich her. In dem Zimmer, das ein Büro zu sein schien, saà die rundliche Direktorin, Juffrouw Frank, hinter einem riesigen Schreibtisch und musterte uns ernst über die Gläser
ihrer runden Nickelbrille hinweg, die bis ganz nach vorn auf ihre Nase gerutscht war. Es schien, als bräuchte sie einen Moment, um sich zu erinnern, wer wir waren. Endlich lächelte sie aber doch ein wenig und sagte etwas auf Holländisch zu Rosa.
SchlieÃlich wandte sie sich uns zu und sagte in gebrochenem Deutsch: » Welkom bei uns! Rosa wird euch eure Betten zeigen und alles andere, was fürs Erste wichtig ist.« Erneut sprach sie ein paar Worte mit Rosa, nickte uns allen noch einmal zu und ging dann wieder an ihre Arbeit. Das war die ganze BegrüÃung.
Rosa schaffte es, dass Hannelore und ich in ihrem Saal, in dem etwa zwanzig Mädchen schliefen, aufgenommen wurden. Jutta kam zu den Jüngeren in einen anderen Saal, aber er war immerhin auf dem gleichen Stockwerk. Die Betten waren altertümliche niedrige Bettgestelle, mit Gittern drumherum wie bei Kleinkindern. Jede bekam drei schwere, steife Decken als Bettzeug.
Kurz darauf wurde von irgendwoher zum Essen gerufen und Rosa zog uns mit sich in den Speisesaal. Sie redete mit einigen Freundinnen, daraufhin gaben uns auch andere Mädchen die Hand und wieder andere schauten schon etwas freundlicher zu uns her. Ein älteres Mädchen befühlte zaghaft den Stoff meiner Bluse. Sie sah aus, als hätte sie auch gern so etwas getragen.
Im hinteren Teil des Saals gingen plötzlich zwei Türen auf und zwei Erzieherinnen schoben auf einem Wagen mehrere dampfende Töpfe herein. Einige Mädchen gossen Tee in Becher, die dann herumgereicht wurden. Aus den Kochtöpfen kam ein ekliger Milchbrei,
mit Klumpen und Haut vermischt. Der Tee war dunkel und schmeckte bitter.
»Kann man keinen Zucker bekommen?«, flüsterte ich Rosa zu.
»Zucker?«, fragte sie erstaunt. »Zucker gibt es nicht. Wir nennen das schwarze Zeug auch nicht Tee, sondern Tinte. Aber du wirst dich dran gewöhnen.«
Dazu bekam jeder zwei Scheiben trockenes Brot und eine Scheibe Käse.
»Das ist Schiebekäse«, sagte Rosa.
»Was?«
»So nennen wir das unter uns. Du musst die eine Scheibe Käse durchschieben von einem Stück Brot zum anderen. Dann hast du auch am Ende noch etwas Käse-Geschmack.«
Zum ersten Mal musste ich lächeln. Rosa schien sich nicht so leicht unterkriegen zu lassen. Einziger Trost des Tages war, dass Jutta, Hannelore und ich vorerst noch unsere persönliche Kleidung behalten durften. Später erfuhren wir, dass noch nicht endgültig entschieden war, ob wir nicht doch bald noch von Holland nach Palästina weitergeschickt würden. Das blieb nach wie vor unser gröÃter Wunsch! Dann
Weitere Kostenlose Bücher