Zu keinem ein Wort
gelegenen Waterlooplein, wohnten seit jeher besonders viele jüdische Familien, meist ärmere Arbeiter und Handwerker. Im Süden Amsterdams gab es eine Gegend, wo eher die wohlhabenderen Juden zu Hause waren.
Leider gab es auch Niederländer, die bald nach der Besetzung zu den Deutschen überliefen und sogar in einer eigenen Nazi-Partei, die bis dahin eher bedeutungslos gewesen war, aufzutrumpfen begannen. Die Anhänger dieser Partei wurden NSBer genannt, NSB ist die
Abkürzung für die niederländische âºNationalsozialistische Bewegungâ¹. Immer öfter kamen jetzt Schlägergruppen dieser Partei in die StraÃen unseres Viertels, um jüdische Frauen und Männer zu provozieren und manchmal auf offener StraÃe zu verprügeln. Rosa berichtete einmal aufgeregt, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie so eine Bande zwei junge Männer aus der Tram gezerrt und danach mit Holzknüppeln blutig geschlagen hätten, bis sie sich nicht mehr bewegten. Allmählich bildeten sich Verteidigungsgruppen jüdischer wie nichtjüdischer Männer, die schnell zusammengerufen werden konnten, wenn wieder so eine Schlägertruppe des NSB auftauchte. Anfang 1941 kam es immer häufiger zu regelrechten StraÃenschlachten, sodass Juffrouw Frank noch strenger als früher darüber wachte, dass wir nach der Schule direkt ins Heim kamen. An den Samstagen durften nur noch die ausgehen, die von Verwandten abgeholt wurden.
Am 11. Februar gab es den ersten Toten: Bei einer Schlägerei wurde ein NSBer so schwer verletzt, dass er kurze Zeit später starb. Die deutschen Besatzer bereiteten daraufhin gemeinsam mit der niederländischen Polizei eine geheime Strafaktion vor, die genau bei uns im Viertel stattfinden sollte. Seit dem Ereignis vom 11. Februar lag eine besondere Spannung in der Luft. Verschiedene Gerüchte, welche jüdische Einrichtung Ziel des nächsten Angriffs sein könnte, hatten bereits die Runde gemacht. SchlieÃlich, am Nachmittag des 22. Februar, ging es los.
Da es Tante Meta nicht gut ging, waren Jutta und ich an diesem Samstag im Heim geblieben. Die meisten
unserer Freundinnen waren bei Bekannten oder Familienmitgliedern zu Besuch. Nur Lena hatte beschlossen, an diesem Tag nicht zu ihrem Vater und seiner Freundin zu gehen. Trotzdem konnten wir nichts Besonderes miteinander anfangen und zogen eher gelangweilt durchs Haus. Dabei sahen wir, dass die Tür zum Büro von Juffrouw Frank geschlossen war, weil sie, wie wir wenig später erfuhren, Besuch von zwei jungen Männern bekommen hatte - zwei Freunden, von denen einer seit kurzem mit einem ehemaligen Mädchen des Waisenhauses verheiratet war, die ihr erstes Kind erwartete. Unsere Direktorin hielt gern Kontakt mit Ehemaligen und berichtete dann meist am nächsten Tag stolz, was âºalles einmal aus uns werdenâ¹ könne. Wir beobachteten, wie die jungen Männer, beide höchstens Anfang Zwanzig, sich nach gut einer Stunde mit einer Verbeugung höflich von unserer Direktorin verabschiedeten, wobei Juffrouw Frank strahlte, als würde sie demnächst selbst Oma werden. Sie ging noch mit zum Portal, das zur StraÃe führte, und sah den beiden einen Moment hinterher. Bevor sie die Tür wieder schloss, erstarrte sie plötzlich, rief dann etwas, was ich nicht verstand, und schlug im nächsten Augenblick mit aller Kraft das Portal zu. Schwer atmend lehnte sie von innen gegen die hohe Tür.
»Nicht hinausgehen!«, fuhr sie uns an. »Keiner geht aus dem Haus!«
Erschrocken liefen wir in eines der oberen Stockwerke, um von dort durch den Spalt der nur wenig nach oben geschobenen Milchglasfenster auf die StraÃe zu schauen. Eine Kette von Polizisten und deutschen Soldaten hatte das eine Ende der Rapenburgerstraat abgesperrt,
während eine andere Gruppe alle Männer, die sich drauÃen aufhielten, festnahmen und diejenigen, die fliehen wollten, mit Gewalt daran hinderten. Ein älterer Mann lag reglos am Boden, von seiner Stirn lief Blut auf das Pflaster. Schräg gegenüber richteten einige Soldaten ihre Gewehre auf die Verhafteten, die in einer Reihe stramm stehen mussten. Lena stieà mich stumm an und deutete auf das hintere Ende der Reihe: Dort standen auch die beiden jungen Männer, die gerade von ihrer Visite bei Juffrouw Frank gekommen waren.
»Was werden die mit denen machen?«, flüsterte Lena, als hätte sie Angst, dass uns die uniformierten
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