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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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Einschüchterungsmaßnahmen deutlich erkennen ließ:
    1. Alle Juden, die nicht unmittelbar dem Aufruf zum Arbeitseinsatz Folge leisten, werden gefangen genommen und ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht.
    2. Alle Juden, die keinen Judenstern tragen, werden ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht.
    3. Alle Juden, die ohne Zustimmung der deutschen Autoritäten ihre Adresse verändern - und sei es auch nur vorübergehend - werden ebenfalls ins Konzentrationslager Mauthausen gebracht.« 13
    Mauthausen, Mauthausen, Mauthausen... Das Wort hatte schon seit Februar 1941 einen grausam drohenden Klang bekommen, ein neu geschaffener Begriff, der gleichbedeutend mit Terror und Todesangst geworden war. Auch in der Rapenburgerstraat wurden Menschen aus den Häusern geholt. Da inzwischen wegen des Luftkriegs der Deutschen mit England abends alle
Fenster verdunkelt sein mussten und keine Straßenlaternen brennen durften, war es oft pechschwarz drau ßen. Und aus dem Dunkel hörte man dann Männerstimmen sich nähern, die irgendwelche Befehle auf Deutsch, aber öfter noch auf Holländisch brüllten, denn die holländische Polizei machte mit. Mit Fäusten und Gewehrkolben wurde auf Türen geschlagen: »Aufmachen! Iedereen meekomen !« Dann blitzten die elektrischen Taschenlampen auf und man konnte verängstigte Gestalten hin und her huschen sehen. Alte Leute, die nicht so schnell laufen konnten, wurden angetrieben. Mütter versuchten, ihre heulenden Kinder zu beruhigen.
    Manchmal versuchte auch jemand, im letzten Augenblick zu entkommen, übers Dach oder den Hinterhof. Dann wurde erneut gebrüllt: »Halt! Stehen bleiben!« Zuweilen fielen Schüsse. Einmal schien jemand getroffen zu sein. Wir hörten in unseren Betten im Obergeschoss einen jungen Mann entsetzlich aufschreien. Es war verboten, die Milchglasrahmen nach oben zu schieben. Aber manchmal taten wir es doch, nur einen schmalen Spalt. Niemand konnte das von unten sehen. Wir konnten aber nichts mehr von jenem jungen Mann erkennen. Nur die Mutter der Zwillinge, die schräg gegenüber wohnte und deren Ehemann schon im Februar 1941 abgeholt worden war, stand unten verängstigt neben ihrer Haustür, an jeder Hand einen der beiden Jungen. Der eine heulte, der andere schaute nur starr zu Boden. Sie waren höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Sonst hatte sie nichts bei sich, keine Tasche, keinen Koffer, nur an jeder Hand ein Kind, und so wurde sie vorwärtsgetrieben zu einer Gruppe Nachbarn, die ebenfalls
entdeckt worden waren. Wir schoben den Rahmen lautlos wieder nach unten und lagen dann schweigend in unseren Betten. Allmählich wurde es wieder ruhig im Viertel. »Ich weiß gar nicht, ob mein Vater noch da ist«, flüsterte Lena leise in meine Richtung.
    Â»Ich habe Angst um Jutta«, antwortete ich. »Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch beschützen kann.«
    Â»Ich muß morgen hier raus, um zu schauen, wie’s bei uns daheim ist«, redete sie leise weiter.
    Und ich flüsterte: »Jutta muß überleben, das habe ich mir und meiner Mama versprochen.«
    Dann drehte sich Lena auf die Seite. Aber ich merkte an ihrem unruhigen Atem, dass sie noch lange wach lag.
    Kurz bevor die Quarantäne wieder aufgehoben wurde, weil sich beim besten Willen kein neuer Scharlachfall mehr finden ließ, hatte Frau Vromen bereits mit Frau Pimentel, der Directrice aus der Crèche , einen neuen Plan für uns entworfen: Alle älteren Mädchen, die im Waisenhaus oder in der Crèche bei den täglichen Arbeiten mithalfen, sollten über den Jüdischen Rat einen inzwischen eingeführten Stempel bekommen, der bezeugte, dass sie hier eine den Deutschen besonders nützliche Arbeit leisteten und deshalb ›bis auf weiteres vom Arbeitseinsatz freigestellt‹ wurden. Es gelang, dass wir vier, Rosa, Suzy, Lena und ich, diesen Stempel bekamen. Endlich konnten wir uns wieder einigermaßen ohne Angst auf der Straße bewegen und zu den Kleinen in die Crèche zurückkehren.
    Â 
    Die Arbeit mit den Kindern war völlig anders als früher. Jeden Tag konnten Kinder, die gestern noch da waren,
weg sein. Dann kamen plötzlich wieder neue Mädchen und Jungen, die einen unruhig und verängstigt, die andern völlig passiv und verschlossen, als hätten sie sich bereits gänzlich von dieser verrückten Erwachsenenwelt in sich selbst zurückgezogen. Und

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