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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Jungen, dem ich nun nicht mal mehr etwas erklären konnte.
    Frau Vromen hatte inzwischen alles versucht, um für uns Zurückstellungen zu erreichen. Dann geschah jedoch buchstäblich in letzter Minute das Wunder in Form einer ansteckenden Krankheit: Eines der kleineren Mädchen im Heim bekam Scharlach. »Gelobt sei der Herr!« Sofort setzte Frau Vromen alles in Bewegung, damit das ganze Haus unter Quarantäne gestellt wurde. Innerhalb weniger Stunden hatte sie jede Menge
Stempel vom Gesundheitsamt besorgt, die alle bestätigten, dass es ganz unmöglich sei, auch nur eine von uns auf Transport zu schicken, weil das die schlimmsten gesundheitlichen Folgen für die gesamte Außenwelt hätte. Wir lachten ausgelassen mit Frau Vromen, als sie uns von ihrem Erfolg berichtete. Auch ihr war die Erleichterung anzusehen. Ihre Brille saß schief, ihre Haare standen in alle Richtungen, aber sie atmete tief durch und meinte: »Das war nur die erste Runde, aber immerhin: Die haben wir gewonnen!«
    Viele andere hatten nicht so viel Glück. Während wir nun wegen der Quarantäne nicht nach draußen gehen durften, sich aber aus Angst vor Ansteckung auch keine Polizisten oder Soldaten zu uns hereintrauten, wurde ab dem 18. Juli 1942 die Schouwburg gegenüber der Crèche zum zentralen Sammelplatz. Bis zum Ende der Deportationen im September 1943 wurden hier rund 18 000 Juden zusammengetrieben, etwa ein Drittel davon Kinder. Meist waren sie nur wenige Tage hier. Dreimal pro Woche wurden sie abends gegen 22 Uhr in einer Straßenbahn unter strenger Bewachung von der Schouwburg zum Hauptbahnhof gebracht, wo bereits Züge warteten, um sie ins Lager Westerbork 12 im Norden des Landes zu transportieren. Und von dort aus ging es nach Osten...
    Kurz darauf durfte die Crèche nicht mehr als normale Kindertagesstätte arbeiten, sondern hatte sich nur noch um die Kinder derjenigen Familien zu kümmern, die in der Schouwburg auf ihre Deportation warteten. All dies wusste ich noch nicht, als ich mit den anderen Mädchen zusammen im Waisenhaus saß und hoffte,
dass wir noch ganz viele Fälle von Scharlach bekommen würden, immer wieder, bis... bis dieser Krieg und die Besatzung endlich vorbei wären. Es gab viele Gerüchte, was mit den Menschen im Osten geschehen würde. Offiziell stand immer wieder ›zum Arbeitseinsatz‹ auf den Deportationsbefehlen. Aber wieso wurden dann auch Babys und alte Menschen abgeholt? Und was genau war mit all den Männern geschehen, die im Februar 1941 ins Konzentrationslager Mauthausen verschleppt worden waren und von denen kein einziger heimgekehrt war?
    Mehr und mehr Menschen versuchten, sich den Abholungen zu entziehen, indem sie sich zum befohlenen Zeitpunkt nicht meldeten, sondern sich versteckten. Dafür wurde das Wort ›Untertauchen‹ erfunden. Ein ›Untergetauchter‹ war jemand, der von der Bildfläche verschwunden war und versuchte, für die deutschen Verfolger unsichtbar zu werden. Das ging im Prinzip auf zwei Arten: Entweder man hatte Freunde, die einem halfen, sich irgendwo auf einem Dachboden, in einem Keller oder sonst einem unzugänglichen Raum zu verbergen - und die dann natürlich für einen sorgen mussten, wollte man nicht verhungern. Oder man versuchte, jemand anderer zu werden, kein Jude mehr zu sein, sondern irgendein christlicher Niederländer mit einem anderen Namen und einer anderen Geschichte. Beides haben Menschen probiert. Beides war riskant.
    Als die deutschen Besatzer merkten, dass immer weniger Menschen den Aufrufen zur Deportation freiwillig Folge leisteten, wechselten sie zu einer neuen Taktik: Sie holten die Juden aus ihren Häusern - unangemeldet,
irgendwann nachts oder am frühen Morgen. Und dann trieben sie sie, so wie sie waren, zusammen und brachten sie zur Schouwburg . Die Deutschen machten keine Angaben, was mit denen geschah, die nach Osten transportiert wurden. Keinen Zweifel ließen sie aber daran, was mit jenen geschehen würde, die sich nicht freiwillig meldeten oder gar die Adresse verlie ßen, unter der sie sich 1941 hatten registrieren lassen müssen. Am 7. August 1942 wurde folgende Bekanntmachung herausgegeben, die Frau Vromen auch bei uns im Heim veröffentlichen musste. Sie tat es ohne weiteren Kommentar, schaffte es aber, ihrer Stimme einen Klang zu geben, der ihre Verachtung für solche

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