Zu keinem ein Wort
angesichts des milden Wetters übermütig vor, doch einen kleinen Spaziergang entlang der Keizersgracht zu
machen: »Wenn ihr mich links und rechts unterhakt, dann geht es.« Ich war erschrocken, wie schwach sie tatsächlich war. Sie hing in unseren Armen und hätte es ohne unsere Hilfe keine fünfzig Meter weit geschafft.
»Ach, Cilly«, sagte sie guten Mutes, »ich glaube nicht, dass sie so eine alte Frau wie mich noch zum Arbeiten holen. Ich wäre denen doch nur eine Last.«
»Das wäre wirklich völliger Unsinn, Frau Javitz«, unterstützte Rosa sie. Ich sagte nichts und hoffte nur, dass die beiden Recht behalten mochten.
»Mit euch beiden an der Seite kann mir jedenfalls nichts passieren«, meinte sie abschlieÃend, als wir mit langsamen Schritten wieder ihr Zuhause erreicht hatten. Ich versprach, ihr das nächste Mal die selbst gestrickten Handschuhe mitzubringen. Es war das letzte Mal, dass ich Tante Meta sah.
Nur wenig später, an einem Samstag, kurz vor unserem Ausgang, kam Juffrouw Roet zu Jutta und mir und fragte vorwurfsvoll: »Wann wart ihr das letzte Mal bei Frau Javitz? Da braucht ihr nicht mehr hin! Die ist heute Nacht abgeholt worden...« Genau so erfuhr ich es. Einfach so, als sei ein Paket abgeholt worden, kein Mensch. Ich war unendlich traurig, aber konnte zum ersten Mal nicht mehr weinen. Nichts, keine Träne. Jutta und ich beschlossen, ihr die Handschuhe nach Westerbork zu schicken. Bestimmt würde es dort in den Holzbaracken nachts sehr kalt sein.
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In den kommenden Wochen tat ich alles, um die Directrice bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Von ihren illegalen Aktionen hatte ich keine Ahnung. Aber ich wusste
genau, worum es ging und dass jeder von uns tun musste, was möglich war. Die Directrice bewunderte ich sehr für ihren Mut und ihre Geduld, obwohl sie doch schon lange keine junge Frau mehr war. Niemals beklagte sie sich. Und nur einmal habe ich sie in all den Monaten wirklich am Ende ihrer Kraft erlebt. Das war, als Remy abgeholt wurde. Remy war als Findelkind zu uns gekommen und vom ersten Tag an hatte sie das Kleinkind unter ihre besondere Obhut genommen. Niemand kannte seinen richtigen Namen und es war nicht einmal hundertprozentig sicher, dass der Junge jüdisch war. Aber nachdem es eine Zeit lang eine richtige Welle von Findelkindern gegeben hatte, die daraufhin als christliche Kinder in christlichen Familien aufgenommen worden waren, hatten die Deutschen befohlen, dass ab sofort alle ausgesetzten Säuglinge als jüdische Kinder zu behandeln seien.
Remy war ein so niedliches Kind, dass selbst einige der SS-Leute verrückt nach ihm waren. Einer der Wachleute schenkte ihm sogar einen groÃen Teddybär. Aber gerade das wurde ihm zum Verhängnis. Denn dadurch, dass sie immer wieder nach dem Kleinen fragten, konnten die Directrice und Walter Süskind ihn nicht einfach untertauchen lassen. Eines Tages stand Remys Name auf der Liste und niemand hatte noch eine Idee, um ihn da wieder zu streichen. Er ging mit seinem groÃen Teddy unter dem Arm.
Das für mich Schrecklichste geschah am 10. Februar 1943, als ich wie immer morgens früh zur Arbeit in die Crèche gegangen war - an diesem Tag ohne Rosa und Suzy, die Spätdienst hatten. Am Vormittag erreichte
mich dort die Nachricht, dass am selben Morgen alle Waisenhäuser Amsterdams âºgeschlossen abgeholtâ¹ worden seien, auch unser Mädchen-Waisenhaus in der Rapenburgerstraat! Ich erstarrte vor Entsetzen - wo war Jutta? Ohne mich umzuziehen, rannte ich die paar Stra Ãen von der Crèche bis zum Heim. Als ich in der Rapenburgerstraat ankam, war das Haus leer. Ein Umzugswagen stand vor der Tür und ein paar Männer hatten begonnen, Möbel aus dem Gebäude zu tragen. Wo waren die anderen Mädchen? Wo waren Suzy, Rosa und Lena? Wo Frau Vromen und die alte Juffrouw Frank? Und was, um Himmels willen, war mit meiner Schwester Jutta geschehen?
Henriette Pimentel, die âºDirectriceâ¹ der âºCrècheâ¹, mit dem kleinen Remy, 1942.
JAKOV
Wohin hatte man die Kinder und Erwachsenen der Amsterdamer Waisenhäuser gebracht? Mein erster Gedanke war die Schouwburg , aber da war mir kein grö Ãerer Transport von Kindern aufgefallen. Das hätte ich bestimmt von der Crèche aus bemerkt. So lief ich erst mal zurück zu meiner Arbeitsstelle, denn ich wusste, dass ich jetzt unbedingt Hilfe brauchen würde, wenn ich
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