Zu keinem ein Wort
schlieÃlich gab es eine neue Gruppe so genannter Findelkinder, meist Säuglinge, die ihre verzweifelten Eltern kurz vor der Deportation irgendwo so ausgesetzt hatten, dass sie eine gute Chance hatten, gefunden zu werden und auf diese Weise vom Transport in den Osten verschont zu bleiben. Hinzu kam, dass unsere Directrice nicht mehr allein zu entscheiden hatte, sondern ihr von nun an alle möglichen SS-Offiziere übergeordnet waren. Sie konnten jederzeit unangemeldet erscheinen und spielten sich auf wie die Götter, indem sie willkürlich irgendwelche Kinder mitnahmen und andere zurücklieÃen. Für den Jüdischen Rat war ein deutscher Jude zur Aufsicht über die Schouwburg und die Crèche angestellt, der selbst mit seiner Frau aus Nazideutschland geflüchtet war. Er war ein kräftiger Mann, etwa Ende DreiÃig, mit gelockten rötlich-blonden Haaren. Sein Name war Walter Süskind und er schaffte es offensichtlich, mit einem der höheren SS-Offiziere immer wieder darüber zu verhandeln, wann welche Kinder von Transporten zurückgestellt werden konnten.
Wir merkten schnell, dass zwischen der Directrice und Walter Süskind ein besonderes Vertrauensverhältnis bestand, und so begannen auch wir, ihm zu vertrauen. Auch wenn er mit einigen der Wachleute einen Schnaps trank oder mit einem der Offiziere Witze austauschte, wussten wir inzwischen, dass er sich nicht anbiederte,
sondern ihnen Informationen entlockte oder die Aufmerksamkeit der Wachleute ablenkte. Wie nützlich das war, sollte ich bald selbst merken. Eines Tages fiel mir auf, wie Walter Süskind am Eingang zur Crèche angeregt mit einem Soldaten sprach, während Sieny, eine der ausgebildeten Kinderpflegerinnen, mit einem leeren Transportkarren zurückkehrte, in dem gewöhnlich mehrmals am Tag Essen und Getränke zu den Menschen in die Schouwburg gebracht wurden. Sie nickte Walter Süskind unauffällig zu, während der sie gar nicht zu bemerken schien. Kaum war sie im Gebäude und auÃer Sicht des Soldaten, rief sie einer Kollegin leise etwas zu, was ich nicht genau verstand. Diese lief zu ihr und schaute sich noch einmal vorsichtig nach allen Seiten um.
Ich verstand erst nicht, warum sie so vorsichtig taten, und blieb stumm im Gang hinter einer Tür stehen. Dann aber vernahm ich ein leises Wimmern aus dem unteren Teil des Karrens, der mit einem groÃen weiÃen Tuch verhängt war. SaÃen dort etwa...? Tatsächlich: Unter der Decke hockten vier Knirpse, die jetzt von Sieny und ihrer Kollegin hochgenommen und in einen Raum am anderen Ende des Flurs getragen wurden. »Mama?«, hörte ich einen der Kleinen ängstlich fragen.
Ein anderes Mal hörte ich, wie sich Sieny und Virrie über zwei Kinder unterhielten, die unterschiedliche Haarfarben hatten. Der älteste Junge, der höchstens drei war, hatte dunkle Locken. »Der kommt nach Limburg in den Süden, da geht der Kaffee hin«, meinte Virrie.
»Und der blonde Zwerg?«
»Das ist Tee, der geht hoffentlich mit nach Friesland, da sind die meisten Kinder blond und er fällt weniger auf.«
Rosa, Suzy und ich waren an dieser illegalen Arbeit nicht beteiligt, aber es war unvermeidlich, dass wir einiges mitbekamen. Es gehörte viel Mut dazu, um Kinder aus der Schouwburg zu retten und in sichere Verstecke auÃerhalb Amsterdams zu bringen. Oft dachte ich: Wie schwer muss es für die Eltern sein, sich von ihren Kindern zu trennen. Und wer weiÃ, wann oder ob sie sich überhaupt jemals wieder sehen werden? Es gab ja keine Garantie, dass alles gut ginge. Die anderen berichteten, dass in dem groÃen Theatersaal der Schouwburg eine ungeheure Anspannung herrschte. Der Saal war nur provisorisch als Quartier für so viele Menschen eingerichtet worden. Es gab noch die Stuhlreihen, die Seitenbalkone und natürlich die Bühne, von der aus Mitteilungen bekannt gemacht wurden. Im Foyer hatte der Jüdische Rat Tische aufgestellt, um die endlose Registratur der vielen Menschen zu erledigen. Später erfuhr ich, dass auch durch das Verschwindenlassen der hierbei benutzten Karteikarten noch einige Erwachsene aus der Schouwburg gerettet wurden. Für die allermeisten Menschen, die einmal hier gelandet waren, gab es jedoch kein Entrinnen mehr.
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Tante Meta war bisher nicht abgeholt worden. Einmal besuchte ich sie gemeinsam mit Rosa. Wir trugen beide unsere Schwesternuniformen und Tante Meta schlug
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