Zu keinem ein Wort
Ordnung?«
Er antwortete nicht, sondern schlich auf Zehenspitzen herein und schloss leise die Tür hinter sich. Dann kam er ganz dicht bis an mein Bett und kniete sich davor nieder. »Berthy«, flüsterte er, »Berthy...« Seine Stimme klang heiser und eigenartig aufgeregt. Ich schaute ihn nur fragend an und wusste nicht, was er wollte.
Obwohl ich mich nicht rührte, tastete er nun nach meiner Hand, und als er sie in die seine genommen hatte, flüsterte er mit dem gleichen ungewohnten Klang in der Stimme: »Berthy, ich muss dir unbedingt etwas sagen...«
WIE LANGE NOCH?
Als ich mich immer noch nicht rührte und auch nichts zu sagen wagte, begann er, sanft meinen Arm zu streicheln, und sagte leise: »Berthy, du bist kein Kind mehr... mein Leben ist so viel lebendiger, so viel schöner, seit du hier bist. Ich möchte...« Er stockte erneut. Ich war mir nicht sicher, ob es gut wäre, wenn er jetzt weitersprechen würde.
»Onkel Wim, bitte lass uns doch einfach so unbeschwert zusammen sein wie bisher«, flüsterte ich endlich zurück.
Ich war in Jakov verliebt. Mit ihm hatte ich die ersten zärtlichen Erfahrungen meines Lebens gemacht. Sein Foto stand direkt neben uns im inzwischen fast gänzlich dunkel gewordenen Zimmer. Wie sollte ich mich nur verhalten? Ich mochte Onkel Wim gern, sicher lieber als seine Frau. Aber wie weit wollte er jetzt gehen? Und was konnte ich tun? Was sollte ich tun? Mein Herz begann zu rasen, weil mir nichts einfiel, wie ich mich aus dieser Situation hätte retten können.
»Berthy, hab keine Angst...«, begann Onkel Wim nun wieder und fuhr zum ersten Mal mit der Hand unter meinen Schlafanzug. »Wirklich, du brauchst keine
Angst zu haben. Ich will nur ein bisschen zärtlich zu dir sein, mehr nicht... ich verspreche es dir.«
Dieser Abend blieb nicht der einzige. Er wiederholte sich viele Male. Oft, nachdem Onkel Wim die Jungen ins Bett gebracht hatte, setzte er sich neben mich und streichelte meine Arme, meinen Hals und meine Brüste. Weiter ging er nie. Ich habe die Annäherungen dieses damals etwa vierzigjährigen Mannes über all die Jahre und Jahrzehnte seit damals für mich behalten. Warum ich bisher nie darüber gesprochen habe?
Vielleicht, weil ich mich geschämt habe zuzugeben, dass ich mich nicht wirklich gewehrt habe. Dass ich es manchmal sogar ein wenig genoss. Diese Aufmerksamkeit, diese Zärtlichkeit. Onkel Wim war kein schlechter Mensch. Er war einer von denen, die damals mein Leben gerettet haben. Aber er hat die Situation eines siebzehnjährigen Mädchens, dessen Leben von ihm abhing, ausgenutzt. Wenn ich mir eines vorgenommen habe, dann, heute absolut ehrlich zu sein. Als Waisenkind lernte ich früh, mich an jede Situation anzupassen. Vielleicht hat mir das damals tatsächlich geholfen, diese ganze Zeit zu überleben. Vielleicht kann es aber auch ein ganzes Menschenleben dauern, bis man davon jemals wieder frei wird.
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Keine Ahnung, wie lange es damals mit Onkel Wim noch weitergegangen wäre, wenn nicht eines Tages im Herbst 1943 Tante Berta bleich vor Angst in die Küche gestürzt wäre. Atemlos berichtete sie, was ihr der Bauer, mit dem ich häufiger zur Heuernte mitgefahren war, gerade erzählt hatte: »Der hat gesagt, im Dorf geht das
Gerücht um, dass du eine Jüdin bist, Berthy!« Ihre Hände zitterten und es war von einer Sekunde zur anderen klar, dass ich hier nicht länger bleiben konnte. Jeder wusste, dass es im Dorf einen überzeugten NSBer gab. Wenn der der Sache erst auf den Grund ginge, dann wäre es in der Tat nicht nur für mich gefährlich, sondern für die ganze Familie.
Onkel Wim schaffte es, seine Frau so weit zu beruhigen, dass er erst im Nachbardorf D. bei jenem Frans, der vor einigen Monaten Tante Cok und den kleinen Abba mitgenommen hatte und wohl so etwas wie ein Verbindungsmann zum Widerstand war, Rat einholen konnte. Noch am gleichen Abend machte er sich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg.
Gemeinsam verabredeten die beiden Männer, dass Onkel Wim mich so bald wie möglich von hier wegbringen sollte. Das Risiko einer Entdeckung war einfach zu groÃ. Frans sagte zu Wim: »Lass die Berthy mal zu uns kommen.« Allerdings dürfte ich mich dort nicht drau Ãen zeigen, da das Dorf ja nur wenige Kilometer entfernt war. In jedem Fall sollte ich mich vor meinem Umzug ganz offen von den Nachbarn verabschieden
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