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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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neuen Ufern aufzubrechen, während mein Zukunftstraum darin bestand, endlich irgendwo anzukommen und zu Hause sein zu dürfen. Manchmal dachte ich daran, wenn ich diese Zeit überleben sollte, mit einem zukünftigen Mann gemeinsam ein Kinderheim zu gründen und zumindest für einen kleinen Teil der Kinder zu sorgen, die nach dem Krieg ohne Eltern dastehen würden. Während ich noch im ersten Dorf war, hatte ich darüber einmal einen langen Brief an Jakov angefangen, ihn aber schließlich doch nicht abgeschickt, weil ich mir sicher war, dass er mich missverstehen würde.
    Ich erhielt noch andere kleine Geschenke zu diesem Geburtstag. Suzy hatte mir einen Schal eingepackt und von Jutta kam ein liebevoller Brief. Selbst Onkel Wim hatte Frans ein kleines Päckchen mitgegeben: Es war ein selbst gemachter Bilderrahmen, den ich für das Foto von Jakov benutzen sollte.
    In all das platzte nur wenige Tage später die Schreckensmeldung, dass sich ein Konvoi mit deutschen Soldaten dem Dorf näherte und überall Hausdurchsuchungen
vornahm. Dabei hatten die Deutschen eine neue Strategie entwickelt, die unser bisheriges Versteck so gut wie nutzlos machte: Wo immer sie versteckte Menschen in Häusern vermuteten, machten sie sich nicht mehr die Mühe, die verdächtigen Mauern, Decken oder Schränke zu durchsuchen, sondern schossen einfach mit Maschinengewehren hinein, um zu sehen, ob sich dann etwas rührte.
    Es war ein ungewöhnlich warmer Tag im Spätherbst, als uns sechs oder sieben Untertauchern nichts anderes einfiel, als das Haus zu verlassen und am Ufer der Maas am helllichten Tag so zu tun, als würden wir ein unbeschwertes Picknick veranstalten. Von dort, wo wir unsere Decken ausgebreitet hatten, sahen wir am frühen Nachmittag auf dem Deich die Militärwagen vorbeifahren. Das war schon ein ziemlich beängstigendes Gefühl. Aber die Aktion hatte funktioniert. Jedenfalls diese eine Mal.
    Â 
    In dem kleinen Haus von Frans und Mien war ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten. Einmal mussten so viele Gäste aufgenommen werden, dass Suzy und ich gebeten wurden, unser Bett für zwei ältere Leute frei zu machen und dafür mal auf dem Fußboden zu schlafen. Als wir schon alles vorbereitet hatten, wollte Frans aber plötzlich doch, dass wir auch ein Bett bekommen sollten. Suzy sollte das Bett mit zwei von den Kleinen teilen und ich die Nacht im Ehebett von Frans und Mien zubringen. Ich dachte mir nichts weiter dabei und legte mich neben Mien in das Doppelbett der beiden. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, merkte ich, wie Frans
seine Frau auf die andere Seite rollte und plötzlich neben mir zu liegen kam.
    Anders als Onkel Wim wurde Frans äußerst zudringlich. Ich hoffte darauf, dass Mien einschreiten würde, aber die drehte sich nur zur Seite und tat so, als würde sie schlafen, was wirklich unvorstellbar war bei dem Rumor, den Frans veranstaltete. Zumindest wusste ich mich meiner Haut so weit zu wehren, dass ich verhindern konnte, dass Frans an sein Ziel kam, in mich einzudringen. Aber es blieb eine schreckliche Erfahrung. Die ganze Nacht machte ich kein Auge zu und nahm mir vor, mich niemals mehr in so eine Situation bringen zu lassen.
    Wieder war es nur meine unselige Scham, die mich hinderte, sofort aufzustehen und unter Protest wegzugehen. Jemand hätte merken können, was los war, und allein dieser Gedanke war mir mehr als peinlich. Wie schon bei Onkel Wim sprach ich auch über diese Erfahrung bis heute mit niemandem, nicht einmal mit Suzy, die nur wenige Meter von mir entfernt die Nacht verbracht hatte. 20 Ich hoffte sehr, dass bald eine neue Adresse für mich gefunden würde, selbst wenn ich dann wieder von Suzy getrennt wäre, und war froh, als mich Tante Cok eines Tages wissen ließ, dass in einem anderen Dorf die Stelle einer katholischen Magd frei war.
    Â 
    Das junge Ehepaar Door und Vic in R. erklärte sich bereit, mich zum Jahresende 1943 aufzunehmen. Sie hatten eine kleine Tochter namens Marianneke und wohnten in einem ordentlichen Haus, das mir nach den vielen Wochen im Chaos von Frans und Mien wie das Paradies

erschien. Vic, der einen Lebensmittelladen führte und das ganze Dorf versorgte, schien mich aus Überzeugung aufzunehmen. Er sympathisierte deutlich mit dem Widerstand. Seine Frau Door dagegen war zuallererst an einer kostenlosen Arbeitskraft interessiert, was mir aber erst allmählich klar

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