Zu keinem ein Wort
wurde. Zur Familie gehörte auch noch Doors jüngerer Bruder Albert, der gerade einundzwanzig geworden war und anders als seine Schwester immer sehr freundlich zu mir war.
Cilly alias Lambertha und Albert auf seinem Kastenfahrrad, mit der kleinen Marianneke im Sommer 1944 in R.
Obwohl ich mich hier in R., das weit genug von den beiden anderen Dörfern weg war, wieder frei bewegen konnte, wurde es doch meine schwerste Zeit insgesamt. Es begann damit, dass ich für Door nie etwas gut genug machen konnte. Ich putzte den ganzen Tag und noch immer glänzte es nicht genug. Ich spielte mit der kleinen Marianneke und sang ihr Kinderlieder vor, aber auch dabei konnte ich Door nichts recht machen. AuÃerdem wurde ich gezwungen, jeden Sonntag mit in die Kirche zu gehen, angeblich weil es sonst auffiele, dass ich gar nicht katholisch war. Die Zeit des Verstellens und Lügens, der grenzenlosen Anpassung, schien niemals zu enden. Oft war ich abends so erschöpft und traurig, dass mich nur ein einziger Gedanke beherrschte: Wie lange noch? Wie lange musste ich dieses Leben, das kein richtiges, sondern nur ein vorgetäuschtes Leben war, noch durchhalten?
Ich muss fairerweise zugeben, dass es auch Momente gab, die weniger schlimm waren. Einmal durfte ich die Familie sogar drei Tage bei einer Segeltour auf der Maas begleiten. Es war immer wieder der junge Albert, der mir Mut zum Durchhalten machte. Auch er musste
auf der Hut vor den Deutschen sein, denn viele niederländische junge Männer zwischen neunzehn und fünfundzwanzig Jahren waren inzwischen zu âºkriegswichtigen Arbeitenâ¹ nach Deutschland verpflichtet worden. Auch das schuf ein besonderes Vertrauen zwischen uns. Mit seinem Kastenfahrrad brachte er nicht nur Waren aus Vics Laden zu den Kunden in der Umgebung, sondern transportierte und verteilte auch regelmäÃig streng geheime Informationen des Widerstands an die Bauern in der Umgebung.
Immer wieder half Albert ein paar Tage im Laden mit und wohnte in dieser Zeit bei uns im Haus. Dann war er wieder längere Zeit unterwegs - und ich war den Launen seiner älteren Schwester erbarmungslos ausgeliefert. Manchmal ging es den ganzen Tag nur so: »Lambertha, warum ist das Geschirr noch nicht abgewaschen? Die Dielen müssen gebohnert werden. Hast du die Fenster schon geputzt? Was - das sollen geputzte Fenster sein?« An manchen Abenden war ich so erschöpft, mutlos und traurig, dass ich mich kaum noch erwehren konnte zu denken: Ach, sollen die Deutschen mich doch holen, dann ist es wenigstens vorbei, dieses Leben, das kein Leben mehr ist. Nur ganz am Anfang in Amsterdam, kurz nach der Trennung von Mutter, Hanna und Jossel, hatte ich mich ähnlich niedergeschlagen gefühlt wie jetzt.
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Seit Monaten schon kamen Berichte über die ersten Siege der Alliierten gegen Hitlerdeutschland. Aber noch immer zog sich der Krieg hin. Ich wusste inzwischen, dass Jutta irgendwo in Limburg untergebracht war,
und erhielt über die Tanten auch immer mal wieder Nachricht von ihr. Aber gesehen hatten wir uns nun schon länger als ein Jahr nicht mehr. Und was konnte ich schon noch tun für sie? Gar nichts. Ohne Jakovs gefälschte Papiere und die mutige Hilfe der Tanten gäbe es mich vermutlich schon längst nicht mehr. Aber welchen Einfluss konnte ich noch selbst auf mein Leben nehmen? Das Warten auf das Ende des Krieges wurde zur Folter, die mich innerlich mehr und mehr zermürbte.
Wie lange noch? Wie lange noch?
BLINDER PASSAGIER
Als ich schon kaum noch daran zu glauben wagte, kam die Befreiung. Dabei waren wir in R. noch bevorzugt, weil hier die Engländer schon einmarschierten, als in anderen Teilen des Landes noch gekämpft wurde. Am 19. September 1944 war der groÃe Tag, an dem wir zuerst nur wieder den englischen Flugzeugen nachgeschaut hatten, die seit Tagen mit ihren Bomben Richtung Deutschland flogen. Doch plötzlich sahen wir lauter dunkle Punkte am Himmel. Ein Nachbar rief: »Das sind Fallschirmspringer!«
Es war zu erkennen, dass sie nicht in unserem Dorf, sondern in der Nähe eines Nachbardorfes landen würden. In den Wochen davor hatte ich mich innerlich wie abgestorben gefühlt. Vielleicht war dies der letzte Schutzreflex, der mich noch am Leben erhalten hatte. Nun erwachte ich mit einem Mal aus meiner Erstarrung. Wer konnte, packte ein Fahrrad oder lief einfach zu FuÃ. Natürlich rannte ich mit allen anderen mit, um die
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