Zu nah am Feuer: Roman (German Edition)
Gigolo«, sagte Kenny grinsend, der über solche Selbstbeherrschung nicht verfügte.
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Ocean Beach hatte sich tatsächlich kaum verändert, jedenfalls in Summers Augen. Mit seiner Einwohnerschaft aus armen College-Studenten, fernwehsüchtigen Surfern und Obdachlosen, aber auch Neubürgern – jungen, gut verdienenden Städtern – verströmte der Ort noch immer eine Boheme-Atmosphäre.
Der Sand war noch sehr warm, die Wellen waren von einem schaumigem Blau, wenn sie an den Strand donnerten. Die Luft roch nach Salz und Fast Food. Einst war dies Summers Zuhause gewesen, doch jetzt kam sie sich wie einer jener Touristen vor, über die sie sich immer ge ärgert hatte.
Den Kummer über ihren Fortgang so viele Jahre zuvor hatte ihre Mutter dadurch zu bewältigen versucht, dass sie ihr Haus ein paar Häuserblocks landeinwärts verkauft und eine kleine Eigentumswohnung in der Stadtmitte gekauft hatte. Sie hatte die Wohnung mit ihren handverlesenen Sammlerstücken, Heilmittelchen und hausgemachten Tees angefüllt, doch Summer war die Wohnung zu weit vom Wasser entfernt erschienen, zu klein und eng, und nach der ersten schlaflosen Nacht hatte sie eine Ausrede ergriffen und gesagt, sie wolle zum Strand gehen, war dann aber in eine von Tante Tinas Immobilien umgezogen, ein kleines Häuschen an der Steilküste mit Blick aufs Meer.
Dies hatte Camille offenbar beunruhigt, und so hatte Summer sich in den vergangenen Tagen um Wiedergutmachung bemüht. Sie waren jeden Tag gemeinsam auswärts frühstücken gegangen, und Summer hatte ihre Mutter aufzuheitern versucht, war mit all ihren Bemühungen jedoch stets gescheitert. Summer hätte es dabei bewenden lassen können, wie sie das meistens bei Dingen tat, die ihr unangenehm oder peinlich waren, aber sie hatte keine Lust dazu. Verdammt, sie war hier, wollte dazugehören, wollte ein Teil der Familie sein. Wollte wieder Nähe spüren.
Am vierten Morgen stieg Summer wieder einmal in ihren VW-Käfer und fuhr auf der Interstate 5 in Richtung Bucht, um sich mit ihrer Mutter zu treffen. Die San Diego Bay, geformt wie ein Haken und geschützt von der Halbinsel Coronado, ist ein natürlicher Tiefwasserhafen, um den die zweitgrößte Stadt Kaliforniens herumgewachsen ist. Summer steuerte auf direktem Weg ins Zentrum, in das berühmte Gaslaternenviertel, einst berüchtigt wegen Prostitution, Glücksspiel und Alkoholkonsum. Jahre zuvor war das gesamte Viertel saniert worden. Die historischen Häuser aus dem 19. Jahrhundert waren in alter Pracht wiedererstanden, und zahlreiche Hotels, Geschäfte, Galerien und schicke Clubs und Restaurants hatten sich angesiedelt, die abends alle von den auffälligen, schmucken Gaslaternen auf den Bürgersteigen erhellt wurden.
Entschlossen steuerte Summer ihren Käfer hinter ein solches viktorianisches Gebäude, in dem das Einrichtungsgeschäft »Creative Interiors« untergebracht war, und parkte auf dem Hof.
Camille stieg ebenfalls gerade aus ihrem Auto, die schlafende Socks im Arm. Summers Mutter wurde in diesem Jahr siebenundvierzig, doch wenn Summer es nicht besser gewusst hätte, hätte sie sie für Mitte dreißig gehalten. Ihre Mutter schien einfach nicht zu altern. Schlank und straff durch ihre morgendlichen Läufe, kleidete sie sich immer höchst geschmackvoll, jetzt beispielsweise trug sie ein altes Secondhandkleid im Bohemienstil. Sie hatte eine Porzellanhaut, langes, welliges, dunkelbraunes Haar und eine Art zu reden, dass jeder zuhörte. »Guten Morgen«, sagte sie und lächelte freundlich. »Wie geht’s dir?«
Summer erwiderte das Lächeln. »Gut.«
»Also, was ist? Ich muss den Laden öffnen.«
»Ich weiß.« Behandle sie vorsichtig. »Mutter, ich habe nachgedacht. Der Versicherungspapierkram ist gar nicht so kompliziert, und ich könnte doch auch noch etwas anderes tun, solange ich hier bin.« Zum Beispiel, dir wieder näherkommen. »Wie wär’s mit einem Job?«
Camille sah sie an, als ob sie ihr vorgeschlagen hätte, sich ein drittes Auge zuzulegen. »Warum?«
»Na ja, ich werde eine Weile hier sein, da …«
»Aber Schätzchen, wieso willst du eine Weile hierbleiben?«
Summer stutzte. »Weil ich es dir versprochen habe.«
»Ich erwarte nicht, dass du meinetwegen alles aufgibst.«
»Das will ich auch nicht.«
»Aber du bist doch nie länger als ein paar Tage geblieben.« Camille war verwirrt.
»Ich weiß«, erwiderte Summer ruhig. »Aber jetzt möchte ich es. Für dich.« Wie sie es ebenfalls für sich selbst wollte, es
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