Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
Fluchtversuch eingefangen
hätten. Mutter sah mich mit ausdrucksloser Miene an; meine Brüder musterten
mich mit Verachtung. Mir waren die Mahlzeiten in meinem Zimmer lieber.
Als meine Mutter schlieÃlich mit mir sprach, erklärte sie mir, dass
sie, falls ich Kontakt mit Robert aufnähme, ihn und seine Familie bestrafen
würde. Nell sah ich überhaupt nicht mehr und Cora immer nur kurz, wenn sie im
Esszimmer Kaffee nachschenkte oder Schalen auffüllte. Dabei blickten wir uns
nie in die Augen, und ich schämte mich zutiefst für all die Probleme, die ich
ihr und ihrer Familie bereitet hatte.
In jenen Wochen verlor ich nur deshalb nicht den Verstand, weil ich
einen Brief nach dem anderen an Robert schrieb, obwohl ich keine Ahnung hatte,
ob er meine Worte je lesen würde. Den Fingerhut hatte ich in der Eile auf dem
Nachtkästchen in der Pension vergessen. Als ich das merkte, weinte ich
bitterlich. Ich besaà kein einziges Erinnerungsstück an Robert und konnte nur
hoffen, dass er den Fingerhut gefunden hatte und ihn nicht als Zeichen nahm,
dass ich ihn aus freien Stücken verlassen hatte. Und ich fragte mich, ob Cora
ihm erzählt hatte, dass ich wie eine Gefangene gehalten wurde.
Ich versuchte, mit meinem Vater zu sprechen. »Wie konntest du es
zulassen, dass sie mich holen? Ich dachte, du möchtest, dass ich glücklich bin.
Und Robert auch. Wir lieben uns. Er kann Arzt werden, und ich könnte ihm
helfen, Daddy. Du hast immer gesagt, dass ich eine gute Arzthelferin abgeben
würde«, bedrängte ich ihn mit flehender Stimme.
»Isabelle, mein Mädchen«, seufzte er nur achselzuckend, als würde
das alles erklären.
Und in diesem Moment wurde mir klar, dass er es anderen überlieÃ,
über unser Schicksal zu entscheiden, obwohl er Robert jahrelang vertraut und
seine Ausbildung unterstützt hatte.
»Ich bin nicht mehr dein Mädchen, Vater«, erwiderte ich und wandte
den Blick ab. Danach sprachen wir lange nicht mehr miteinander. Und ich nannte
ihn nie wieder Daddy.
Irgendwann gelang es mir, nach dem Essen mit Cora zu reden. Ich
brachte die Teller in die Küche wie schon so oft zuvor. Als ich durch die
Schwingtür trat, hob Cora erschrocken den Blick und wandte ihn hastig wieder
ab, nachdem sie mir mit einer Kopfbewegung signalisiert hatte, wo ich die
Teller abstellen sollte. Ich behielt sie in der Hand, damit es für jemanden,
der die Küche betrat, aussah, als wäre ich gerade erst hereingekommen. Vater
war zwar bei einem Patienten, und auch meine Brüder waren nicht da, aber ich
wusste nicht, wo Mutter sich aufhielt. Wahrscheinlich im Bett, weil sie über
Kopfschmerzen geklagt hatte.
»Alles in Ordnung mit Robert?«, fragte ich Cora leise. »Tut mir
leid, dass ich dir und deiner Familie so viel Kummer bereitet habe. Ich liebe
ihn. Wirklich, Cora.«
Sie trocknete eine Hand an ihrer Schürze ab. »Ich darf nicht darüber
reden. Passen Sie auf sich auf, und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über uns.«
»Und Robert?«
»Uns gehtâs gut. Aber wenn Ihre Brüder Wind davon bekommen, dass Sie
mit mir sprechen, machen sie ihre Drohungen wahr. Sie haben bei uns nach Robert
gesucht. Ich weià nicht, ob er es überlebt, wenn er Sie noch mal anrührt oder
einer von uns mit Ihnen redet. Sie haben gedroht, unser Haus und unsere Kirche
abzufackeln. Miss Isabelle, halten Sie sich von uns fern.«
Während sie sich heftig erregt abwandte, stellte ich mit zitternden
Fingern die Teller auf der Arbeitsfläche ab. Der Geruch der verkrustenden
SoÃenreste lieà mich würgen. Oder waren es Coras Worte?
Mutter erkundigte sich, ob ich etwas für die Monatshygiene
benötigte. Ihre Sorge überraschte mich, doch als ich hörte, wie sie den
Abfalleimer im Bad durchwühlte, begriff ich: Sie wartete auf ein Zeichen, dass
mein Körper sich nicht auf eine Weise veränderte, die meiner Familie sichtbar
Schande gemacht hätte.
Als ich ihr eines Tages sagte, ich brauche Binden, seufzte sie
erleichtert auf und brachte mir wenig später eine Packung. Ich wurde rot. Sie
dachte bestimmt, mir sei die Situation peinlich.
Aber ich wurde nicht aus Verlegenheit rot, sondern aus Wut.
SECHSUNDZWANZIG
DORRIE, GEGENWART
Sechs senkrecht: Ironie . Ironie
des Schicksals. Mein Stevie junior in Panik wegen der Schwangerschaft von
seiner Freundin. Miss Isabelles Mutter in Panik, weil sie nicht wusste, ob
Weitere Kostenlose Bücher