Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
nebenan. Enge
Freundschaften schloss ich dort nie.«
»Waren Sie froh, dass Danes Hautfarbe weià war? Dass er nicht wie
Robert aussah?«, rutschte es mir heraus.
»Es war einfacher für alle Beteiligten. Ich musste Max meinen
Fehltritt nie beichten. Und Dane musste nie durchmachen, was ihm als Kind von
Robert bevorgestanden hätte. Das wäre wahrscheinlich auch heute noch
schwierig.«
Ich nickte.
»Ich war am Boden zerstört. Wieder hatte ich kein Andenken an
Robert. Der Brief kam eine Woche vor Danes Geburt. Danach war es mir
gleichgültig, ob das Kind und ich die Geburt überlebten. Doch Max â er war
wirklich ein guter Mensch â hat mich gestützt und nie gefragt, warum ich so
apathisch war. Er hat mir kühlende Tücher auf die Stirn gelegt und den Arzt
gerufen, als es so weit war. Er hat Dane gleich nach der Geburt auf den Arm
genommen und von der ersten Sekunde an geliebt. Er hat ihn mir an die Brust
gelegt und mich gezwungen, ihn ebenfalls zu lieben. In den ersten Wochen war
ich zwischen Wut und Angst hin- und hergerissen â Wut darüber, dass ich Robert
nie wiedersehen würde und kein Kind hatte, das mich an ihn erinnerte, und Angst
davor, dass ich eine schlechte Mutter sein würde und nicht in der Lage wäre,
mich richtig um Dane zu kümmern. Als Max das merkte, hat er nicht mehr von
weiteren Kindern gesprochen.«
Sie griff in ihre Tasche. »Am Ende blieb mir dann doch ein Andenken
an Robert.«
Der Fingerhut, den ich auf ihrer Frisierkommode gesehen hatte, wenn
ich ihr die Haare machte.
»Max hat ihn an dem Tag, an dem ich mich das letzte Mal von Robert
verabschiedet habe, in unserem Briefkasten gefunden. Keine Ahnung, wann er ihn
hineingeworfen hat. Ich habe ihm damals nicht von der Veranda aus nachgesehen.
Das wäre nicht gegangen. Ich wäre ihm nachgelaufen und hätte ihn auf offener
StraÃe angebettelt, mich mitzunehmen.«
Sie gab mir den Fingerhut. Ich steckte ihn auf meinen Daumen und
drehte ihn. Die drei Worte darauf erzählten Miss Isabelles ganze Geschichte.
Glaube. Hoffnung. Liebe.
Doch wer sollte nun beigesetzt werden? Ich hatte gedacht, Robert,
aber der lag schon lange in seinem Grab. Da wartete jemand anders darauf, dass
Miss Isabelle sich von ihm verabschiedete.
Nell? Während Miss Isabelle langsam zum Buick zurückkehrte, stellte
ich mir vor, wie sie sich von dieser Frau verabschieden würde. Eine Frau, die
wie eine Schwester für sie war und die fast alles für sie getan hätte.
»Was war dann mit dem Gedenkstein vor dem College?«, fragte ich, als
wir wieder im Wagen saÃen.
»Robert hat eine einsemestrige medizinische Grundausbildung in
Meharry absolviert. Die und der Militärdienst wären fürs Studium angerechnet
worden; er hätte es kurz nach dem Krieg abgeschlossen. Er war nicht der Einzige
aus seinem Kurs, der in Europa umkam.«
Ich war davon ausgegangen, dass auf dem Gedenkstein die Namen der
Studenten standen, die ihren Abschluss gemacht hatten. Jetzt begriff ich, dass
es die Namen von allen waren, die 1946 mit dem Studium fertig gewesen wären.
Wie viele waren nicht lebend zurückgekommen im letzten Jahr des Kriegs, als
Schwarze doch noch in den Kampf ziehen durften?
Wir fuhren recht schweigsam zum Bestattungsinstitut zurück. Als ich
den Motor abstellte, seufzte Miss Isabelle tief. Sie sah aus, als hätte sie
nicht die Kraft auszusteigen.
»Alles in Ordnung?«
»Jetzt hab ich es so weit geschafft â¦Â«
»Ja, Miss Isabelle.«
Drinnen besah sie sich die Schilder mit den Namen, Geburts- und
Sterbedaten, die vor den Räumen mit den Toten aufgestellt waren. Der Name auf
dem Schild, vor dem sie stehen blieb, sagte mir nichts. Von einer Pearl war in
Miss Isabelles Geschichte nicht die Rede gewesen.
Aber den Nachnamen kannte ich inzwischen gut.
Wer war Pearl Prewitt?
NEUNUNDDREISSIG
ISABELLE, GEGENWART
Ich betrachtete die Fotos, die aufgestellt worden waren.
Bilder von Pearl als Kleinkind, als Mädchen, als junge Frau und im mittleren
Alter. SchlieÃlich ein Schnappschuss von ihr am Fenster. Darauf hatte sie die
gröÃte Ãhnlichkeit mit der Gestalt im Sarg. Vielleicht hatte der Bestatter sich
daran orientiert, als er sie für die Beisetzung zurechtmachte.
Jeder einzelne ihrer zweiundsiebzig Geburtstage quälte mich. Sie war
plötzlich und unerwartet gestorben, ohne dass eine lange, schwere Krankheit
ihre glatte Haut
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