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zuadraht

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Titel: zuadraht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kopacka
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Gäste. Ein älteres Paar in Wanderausrüstung. Festes Schuhwerk, kurze Hosen, karierte Hemden. Die Rucksäcke haben sie an die Tischbeine gelehnt.
    Die Wirtin tritt aus der Türe, als sie mich bemerkt. Wir grüßen einander höflich, auch das Wandererpaar nickt mir zu. Ich setze mich an den Nebentisch, die Wirtin bringt mir die bestellte Weißweinmischung. Heiß, sagt sie, während ich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne wische. Statt zu antworten greife ich nach dem Glas und beginne zu trinken. Hoffentlich ist es übermorgen kühler, sagt sie, als ich das halbleere Glas absetze. Sie wartet auf meine Frage, aber ich blicke sie nur fragend an. Na, wissen Sie es nicht, drängt sie. Ich schüttle den Kopf. Übermorgen ist unser großer Tag, fährt sie fort. Ruinenfest! Klickt es jetzt bei Ihnen? Großes Ruinenfest, sagen Sie bloß, Sie haben nichts darüber in den Zeitungen gelesen. Im Fernsehen ist‘s auch schon ein paar Mal angekündigt worden. Der Reinerlös geht an die Kinderkrebshilfe. Sogar die Landeshauptfrau kommt. Eröffnet um neun Uhr höchstpersönlich das Fest. Jetzt wissen Sie‘s, hab ich Recht? Natürlich weiß ich es, aber warum soll sie wissen, dass ich es weiß. Keine Ahnung sage ich. Sie gibt auf und geht kopfschüttelnd weg.
    Ich hasse neugierige Menschen. Und überfreundliche erst recht. Das Wandererpaar, das alles mitgehört hat, beginnt in meine Richtung zu lächeln. Bevor es zu einer weiteren nichts sagenden Tratscherei kommen kann, lege ich die Zwei-Euro-Münze für die Weinmischung auf den Tisch, leere im Aufstehen das Glas und mache mich aus dem Staub. Ein paar Minuten später habe ich das obere Ende des Jungfernsprunges erreicht. Ein kleiner, von einem Geländer umrahmter Platz, von dem aus eine steile, zerklüftete Felswand ins Tal fällt. Von hier aus soll sich irgendwann im Mittelalter die Tochter eines Burgbesitzers wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte in den Tod gestürzt haben. Es ist ein idealer Ort für einen Selbstmord. Ein Schritt über die Kante genügt und man fällt, bis man zerschellt.
    Im Laufe der Jahrhunderte haben mehrere Dutzend Grazerinnen und Grazer hier auf eigenen Wunsch mit dem Leben Schluss gemacht. Erst vor kurzem stand in den Zeitungen zu lesen, dass ein 15-jähriger Schüler nach der Zeugnisverteilung hierher gekommen und gesprungen war. Erfolgreich. Man könnte sagen, dass der Göstinger Jungfernsprung den meistbenutzten Selbstmordort der Stadt darstellt. Sich hier umzubringen hat Klasse und Tradition. Und es kostet nichts. Gar nichts. Nicht einmal den Preis eines Strickes. Nur Schweiß, wenn man, wie ich, zu Fuß kommt, und die Überwindung, die aus einem Selbstmordkandidaten einen erfolgreichen Selbstmörder macht. Aber die wird ja gratis geliefert, wenn die Verzweiflung groß genug ist. Als Bonus kriegt man sogar noch ein paar Se-kunden Luftfahrt geschenkt, während der man das verpfuschte Leben an sich vorbeiziehen lassen kann. Blöd ist es nur, wenn man in diesen Augenblicken erkennt, dass es eigentlich doch nicht wirklich verpfuscht war. Umdrehen geht nicht mehr, der Jungfernsprung ist eine Einbahnstraße in den Tod.
    Im Stadion, Mittwochnachmittag
    Der Kieberersektor, so haben wir ihn früher immer genannt. Ihr tut das sicher auch heute noch. Zu wenig Fantasie, um einen neuen Namen zu finden. Aber warum auch? Der alte passt perfekt. Diese Ecke im Grazer Arnold-Schwarzenegger-Stadion gehört der Polizei. Nein, nicht jener in Uniform, die draußen und drinnen und drüben und überhaupt überall als Brandlöscher für überschäumende Fanstimmung im Einsatz ist, sondern der zivilen, privaten. Ein beträchtlicher Teil der Sturmfans im Kieberersektor war einmal bei der Grazer Polizei und genießt jetzt den Ruhestand, die meisten sind aber noch aktiv und schaffen es, wie durch ein Wunder, Heimmatch für Heimmatch, nicht dienstlich, wie die armen Hunde, für die Helme, Schilde und Tränengas bereitstehen, sondern in ihrer Freizeit, ganz normal, als biedere Matchbesucher, im Stadion sein zu dürfen.
    Du, Schleimi, warst immer schon das Zentrum des Kieberersektors. Dessen Leuchtturm. Wahrscheinlich warst du bis heute immer da, bei jedem einzelnen Heimmatch, und die anderen haben sich, wie wir es damals taten, auch weiterhin um dich geschart. Damals, als ich noch ein regelmäßiger Matchbesucher war, konnte sich jedenfalls keiner im Kieberersektor vorstellen, dass ein Match angepfiffen werden konnte, bevor Du nicht an deinem angestammten Platz

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