zuadraht

Der Mohr kann gehen?
    Michelin hob den Kopf. „Wieder irgend so ein Dichter?“ Eine Verschwörung, dachte ich, soweit ich mich besinnen konnte, war es eine Verschwörung. Die Verschwörung des Sowieso in Sowieso. Palermo oder Genua? Goethe oder Schiller? Irgendwas mit einem Desaster hat es zu tun. Einem Fiasko. Oder einem Fresko? Und hieß es im Original statt Schuldigkeit nicht Arbeit? Kann schon sein, überlegte ich weiter, aber Schuldigkeit passt jedenfalls besser. Gearbeitet hat Mohr Hanser in unserem Stück bestimmt nicht allzu viel.
    Ohne auf die Antwort zu warten, fuhr Michelin mit seiner Beschau fort und schälte die Hände des Toten aus den Seitenmulden des Bergesacks. „Wenn es noch eines Beweises seiner Opferrolle bedurft hätte . . .“ Er hielt uns die bandagierte, schlaffe Linke Hansers entgegen. „Kein professioneller Verband für einen, wie ich vermutete, erst kürzlich amputierten Daumen. Jedes Wesen mit einem Batzen Hirn geht damit ins Spital. Es sei denn, etwas oder jemand hindert es daran?
    „Ein abgetrennter Daumen? Das ist ja ekelig.“ Bela schüttelte sich demonstrativ ab.
    Michelin fuhr in professioneller Unbeirrtheit fort. „Ein Gewehrlauf ließe sich eventuell auch zwischen Zeigefinger und Mittelfinger spreizen. Aber wer opfert freiwillig seinen Daumen, wenn er plant, jemandem ein Loch in den Kopf zu schießen? Und wenn er ihn zum Tippen braucht?“
    Ein echter Michelin. Er spricht aus, was andere zum Denken bringt. Ich zog mein Handy aus der Tasche und aktivierte den Nummernspeicher. Die Leitung stand nach wenigen Sekunden. „Herr Hochauer?“ sagte ich fragend. „Nach welchem System hat Martin Hanser seine Kolumnen verfasst? Nicht geistig. Schreibtechnisch, meine ich. Adler such oder zehn Finger?“ Als ich, auf die Antwort meines überraschten Gesprächpartners wartend, zur Seite blickte, sah ich Bela, wie sie ihre Mundwinkel nach außen verspannte und bei kurzem, seitlichem Kopfvibrieren ein entsetztes „Nicht!“ zischelte. Auch Michelin blickte irritiert. Ich schloss die Augen, schürzte die Lippen, hob die freie Hand zur beschwichtigenden Geste und beendete das Telefonat mit einem raschen „Danke!“ und einem noch rascheren Druck auf die rote Taste.
    „Bist du verrückt, Ferri?“ Bela war außer sich.
    „Beruhige dich. Er kann sich keinen Reim darauf machen, und uns hilft es weiter. Eine zusätzliche Bestätigung, wenn du so willst. Hochauer sagt, dass es nichts gab, was an Martin Hanser bewundernswert war. Außer seinem Gehaltszettel und der Fähigkeit, mit zehn, wohlgemerkt zehn Fingern in die Tasten seiner alten mechanischen Schreibmaschine zu klopfen. Schneller als jeder andere auf dem Computer.“
    „Ich sollte dich nicht unterschätzen.“ Bela lächelte ihr Psychohexenlächeln.
    Ich lächelte zurück. „Oft kopiert und nie erreicht? Ein Klassiker.
    Michelin ließ seine Augen zwischen uns hin und herwandern, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Martin Hanser zu. „Übrigens“, sagte er ohne noch einmal aufzublicken, „das Projektil, mit dem die Frau Landeshauptmann erlegt wurde . . .“
    „Was ist damit?“
    „Burenwurst.“
    „Du sprichst in Rätseln, Willi“, sagte Bela.
    „Interner Sprachgebrauch, Bela. Sagt Michelin Burenwurst, meint er nicht wirklich die Wurst.“ Michelin nickte. „In einer Munitionsfabrik nahe Bombay wurde vor mehr als hundert Jahren für die britischen Kolonialtruppen eine Patrone mit Teilmantelgeschoss gefertigt und erstmals im Burenkrieg eingesetzt. Ein Projektil, bei dem ein Teil der Geschossspitze frei liegt. Richtig?“
    „Es war Kalkutta“, murrte Michelin. „Die Fabrik stand in der Ortschaft Dum-Dum. Daher der Name der Geschosse. Kennst du die Wirkung, Bela?“
    „Nur in Grundzügen aus der Waffenkunde.“
    Michelin schnaufte. „Eine bösartige Innovation, laut Haager Landkriegsordnung verboten. Aber was interessieren dich schon Konventionen, wenn du damit auf den Kopf der steirischen Landeshauptfrau feuerst. Ein Kupfermantel umschließt den Geschoßkörper und schützt den Lauf der Waffe vor Verbleiung, also dem Abrieb des Hartbleikerns. Was sich sehr wohl abreibt, wenn er aufschlägt, ist der weiche freiliegende Bleikern, der eigentliche Satan. Das Projektil pilzt auf, verstehst du? Es geht auf wie ein Schwammerl und reißt hässlich große Löcher?
    Bela schluckte sichtbar und ihre Augen wanderten an Michelin vorbei in eine Leere, in der sie vom Abbild des aufgeplatzten Landesmutterkopfes erwartet zu werden