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zuadraht

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Titel: zuadraht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kopacka
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Leidensfähigkeit“, erwiderte Bela. „Du solltest deinen Freund, den Herren Gerichtsmediziner, bitten, Martin Hanser auf jedwede Spur von Folter zu untersuchen. Aber das dürfte ja auch bei euch in Graz Standard sein, oder?“
    Ich nickte. Apropos Leidensfähigkeit, dachte ich, als ich im Augenwinkel einen schnaufenden Michelin auf die Plattform zusteuern sah. „Ein Scheißtag“, schnaubte er. Dann streifte er ohne Umschweife ein neues Paar Einweghandschuhe und seinen Mundschutz über, zog den Reißverschluss des Bergesackes mit einem Ruck nach unten und legte den geschundenen Körper frei. Kerntemperatur messen. Todeszeitpunkt und Todesursache abschätzen. Augenmerk auf Auffälligkeiten aller Art richten. Das ganze Standardprogramm. Während Michelin wie in Trance seine über die Jahre automatisierten Bewegungsabläufe abspulte, gaben wir ihm eine Kurzfassung unserer Überlegungen zum Besten. Er nickte immerzu und schwieg. Dann ließ er den Blick über jenen Teil des Metallgeländers schweifen, der dem Schützen den Zeugenaussagen zufolge als Absprungbasis gedient hatte, und zog die Maske von den Lippen. „Abrieb“, sagte er knapp. „Vielleicht ein Seil.“ Er beschrieb mit dem Finger eine ovale Form in Richtung seiner Mitarbeiter. Einer stand gebeugt über einem Meterstab, den er neben zwei klar strukturierten Schuhabdrucken in Verlaufsrichtung der Spitzen zum Geländer hin ausgerichtet hatte, und fotografierte planparallel. Der andere bepinselte den Handlauf des Geländers mit Magna Brush. Der mit dem Pinsel nickte kurz. Der erste wiederum drückte den Auslöser seiner Kamera und bedeutete Michelin mit kurzer Handbewegung zu ihm zu kommen. Eine Zeitlang kauerten beide über den Abdrücken, dann kehrte Michelin zum toten Hanser zurück, musterte die Sohle seiner Schuhe und schüttelte entschieden den Kopf. „Nagelneu“, sagte er. „Kein Sand im Profil. Gar nichts.“
    „Sieht aus, als wäre unser Freund Hanser hergetragen worden“, sagte er. „Die einzig brauchbaren Schuhabdrucke sind die beiden da drüben. Auf dem trockenen schottrigsandigen Untergrund kein Wunder. Normalgewichtige hinterlassen auf diesem Boden kaum Spuren. Zwei Normalgewichtige mit nur einem Paar Schuhe aber sehr wohl.“
    „Oder einer wie. . .“
    „Halts Maul, Ferri!“ Michelin warf mir einen strafenden Blick zu, strich seinen zerzausten Hufeisenbart zurecht, sah Bela an, klopfte mit beiden Handflächen seinen massigen Leib ab und begann unvermutet zu lächeln. „Ich habe eine erfüllte Existenz. Jeder trägt einen Zweiten mit sich herum. Nur tragen ihn nicht alle so offen zur Schau.“
    Einen Zweiten. Der Zweite. Der zweite Mann. Natürlich. Bela und ich waren so sehr in Martin Hansers Rolle in dem Streifen vertieft gewesen, dass wir über alledem auf ihn vergessen hatten. Auf den Regisseur. Auf den Zweiten, der, sofern unsere Theorie stimmte, zweifelsohne da gewesen und auch von hier geflohen sein musste, dachte ich, indem er vor aller Augen vermeintlich in den Tod sprang. Mit blauem Arbeitsoverall. Getarnt als Martin Hanser. So könnte es gewesen sein. Der Sicherheitsmann der Landeshauptfrau, unser Kollege, der Insektenkopf, und ein paar andere, sie alle waren nach dem tödlichen Schuss binnen Sekunden an die Bergfriedzinnen gestürzt. Zu schnell, als dass einer ungesehen über den Pfad hätte entkommen können. Stattdessen sahen sie den inszenierten Todessprung, der keiner war. Der wahre Todessprung, dachte ich, war jener Martin Hansers, vermutlich erst kurz zuvor, um seinen Körper nicht vor der Zeit auskühlen zu lassen. Der starke Blutverlust aus den zahllosen Wunden seines leck geschlagenen Körpers sprach dafür, dass er noch am Leben war, als er da runter musste. Ein totes Herz pumpt nicht. Martin Hansers Abgang erfolgte nicht vor der Zeit. Vor der Zeit. Zeit, die ihm eingeräumt worden war, um seine Schuldigkeit zu tun. Vor der Zeit. Jene Zeit, die wir brauchen würden, um ihn zu orten, zu bergen, zu untersuchen. Michelins intuitive Fähigkeit zur raschen Analyse hatte ihn einmal mehr auf die richtige Fährte geführt und nach Abriebspuren eines Seils fragen lassen. Wie sonst hätte der Schütze den Abstieg über die Felsstürze bewältigt, wenn nicht gesichert? So könnte es tatsächlich gewesen sein. Nein, so musste es gewesen sein.
    „Für Martin Hanser ist es vorbei. Für uns noch nicht.“ Belas Gedanken waren im Gleichklang zu meinen verlaufen.
    „Ja“, sagte ich. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

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