Zuckerleben: Roman (German Edition)
sehr an dem Päckchen, wissen Sie …«, erklärt sich Tolyan Andreewitsch, wobei er Calabreses neuen Vornamen betont, wie nebenbei einen träumerischen Blick auf die Überreste des Krisenopfers wirft und das Päckchen mit dem georgischen Tee an sich nimmt. Wladyka Borimirović beäugt den Moldawier mit wohlwollender Neugier, Dušan starrt Tolyan Andreewitsch an und hält das leicht schwingende Weihrauchfass in seinen Händen, Monica öffnet ihren Mund und sagt dann doch nichts, Francesca Lombardo kneift die Augen zusammen, und in der Ferne versucht eine männliche Amsel mit ihrem optimistischen Gesang ein Weibchen anzulocken. Als plötzlich ein Knall durch die Nacht peitscht. Einmal und dann noch einmal. Gepaart mit dem schrillen Geräusch von Glas, das zersplittert.
»Das ist eine Beretta 92 F, Kaliber 9 x 19 mm«, sagt der Serbe mit dem »Kosovo = Srbija«-T-Shirt.
Es ist 04 : 47 Uhr, Samstag, der 23. Juli 2011. Das Begräbnis ist für Sonntag, den 24. Juli angesetzt.
KRISENBUCH ZWEI
DIE KONKURRENTEN
ICH HÖRTE, WIE DEIN HAAR
ERST GALOPPIERT,
DANN STEHT,
WIE DIE KAPELLE NICHT MEHR WEISS,
WAS SIE NOCH SPIELEN SOLLTE,
ICH WUSSTE, DASS MAN WEITERTRANK, OBWOHL MAN NICHT MEHR WOLLTE.
DIE NUTTEN SAGTEN NICHT, WOHER DER SÜDWIND WEHT.
ONDŘEJ CIKÁN
LIEBE GRÜSSE AUS DEM »HOLZKLUMP«
1991. DONDUȘENI, MOLDAWISCHE SSR
Keine Konkurrenz
»Fabelhaft. FA-BEL-HAFT . Ich hätte nicht gedacht, dass du das so rasch hinkriegen würdest, Vadim«, sagt Tutunaru, zwinkert dem Maler zu, blättert in seinem bordeauxfarbenen sowjetischen Pass und befeuchtet den Zeigefinger, mit dem er die nummerierten Seiten durchforstet.
Und da ist es dann. Endlich entdeckt Tutunaru im hinteren Drittel seines Reisedokuments das Gesuchte, den direkten Ausweg aus der Krise und das Ende all seiner mit dem sowjetischen Sozialismus verbundenen Probleme. Tutunaru lässt seinen Zeigefinger auf der Seite 21 ruhen, lächelt zufrieden wie ein Hajduke, der gerade von einer erfolgreichen Mission zurückgekehrt ist, und schließt den Pass. Dann macht er ihn wieder auf, starrt noch einmal auf die Seite 21, verkrampft sein Gesicht, als hätte sich jemand darin übergeben, und schleudert das sowjetische Reisedokument auf die Tischplatte.
»Vadim, Vadim … Was zum Henker hast du gemacht?«
»Wie jetzt? Ich habe dir gleich gesagt, am Apparat, dass es eine Komplikation gegeben hat.«
»An was für einem Apparat?«
»Am Telefon. Ich habe dich doch aus Chișinău angerufen. Am Donnerstag, gleich nach dem Morgenstromausfall.«
»Moment mal, du warst gar nicht bei den Bibilaschwili-Brüdern in Odessa?«
»Doch. Aber angerufen habe ich dich von Arapu aus, vom Ministerium. Danach bin ich gleich zu den Bibilaschwili-Brüdern gefahren, nach Odessa, noch vor dem Abendstromausfall.«
»Das war Samagon im Wert von 5000 Dollar, den du einfach in den Sand gesetzt hast! 5000 Dollar!«, unterbricht ihn Tutunaru und streckt die fünf Finger seiner rechten Hand aus: »Wie soll ich dir das noch deutlicher veranschaulichen …?«
»Das ist mehr als eine Tonne Doktorenwurst!«, wirft der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu aus dem Hintergrund ein und analysiert: »Eine Stange Doktorenwurst bekommt man für umgerechnet einen Liter selbstgebrannten Schnaps, Samagon, wenn man einen guten hat – und wir haben guten Samagon! So. Und wie viel wiegt eine normale Stange Doktorenwurst? Das weiß jeder Kolchosbauer: Eine Standardstange Doktorenwurst wiegt 750 Gramm. Das heißt also, dass man für 1500 Liter Samagon 1,125 Tonnen Doktorenwurst – Doktorenwurst! – bekommen kann. Oder anderthalb tausend Stangen Doktorenwurst!«
»Roma, halt die Klappe.«
»1125 Kilogramm Doktorenwurst! Eintausendeinhundertfünfundzwanzig Kilogramm DOK-TOREN-WURST! Das würd ich gerne mal auf einem Haufen sehen …«
Pitirim Tutunaru fixiert mit seinen Blick Roma Flocosus pummelige Augenringe, stumme Zeugen des chronischen Schlafmangels des moldawischen Akademikers.
»Du nicht?«, hakt der EHH nach, mit einem satten Lächeln im Gesicht, so als würde er gerade vor sich tatsächlich 1500 Stangen Doktorenwurst auf einem Haufen sehen.
»Jetzt tu nicht so, als wäre das das Ende der Welt, Pitirim.«
Tutunaru wendet sich wieder Vadim dem Maler zu.
»Wieso, glaubst du denn nicht an das Ende der Welt?«
»Nein.«
»Aber ich fange langsam an, daran zu glauben«, sagt Pitirim Tutunaru, zupft an seinem Bart und starrt auf einen fixen Punkt, als
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