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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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glaubte an ihre Tochter und daran, daß sie ihren Weg machen würde. Aber um das zu können, mußte sie auf eigenen Füßen stehen.
    Und Natalie wußte, daß sie jederzeit nach Hause kommen konnte. Daß ihre Mutter immer für sie da sein würde. Aber sie mußte lernen, wie es ist, wenn man für alle Entscheidungen selbst die Verantwortung übernehmen mußte. Sie brauchte nichts mehr zu tun, um zu zeigen, daß sie anders als ihre Mutter war. Sie brauchte keine Kraftproben mehr, um zu zeigen, wer die Stärkere war. Sie war stark genug, um allein zu sein. Denn sie war nicht einsam.
    Mit Schaudern dachte Gaby an ihren eigenen dramatischen Abgang von zu Hause. Nur mit Drohungen war es ihrem Hausarzt gelungen, Muttis Unterschrift zur Volljährigkeit zu bekommen. “Wenn Sie nicht unterschreiben”, hatte Dr. Rehbein gedroht, “sorge ich dafür, daß Ihr Mann ins Gefängnis kommt. Nicht nur wegen Mißhandlung.” — “Sie lügt, alles, was Gaby sagt, ist gelogen”, hatte Mutti hilflos und verzweifelt gesagt und ganz leise: “Wie soll ich denn weiterleben, wenn ich das glauben würde, was Sie sagen? Dann könnte ich mich ja gleich aufhängen.” Dr. Rehbein hatte Mutti den Füllfederhalter in die Hand gegeben. “Es dreht sich nicht darum, wie Sie weiterleben, es dreht sich darum, daß Gaby weiterlebt.”
    Gaby hatte weitergelebt. Wie in Trance, die ersten Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Norbert hatte ihr ein Untermieterzimmer am Dammtor besorgt. Ganz still hatte Gaby in der Tür gestanden. Eine Tür, die sie hinter sich abschließen konnte. Es war ein großes Zimmer mit breitem Fenster. Vor dem Fenster stand eine ausladende Kastanie mit rotblühenden Kerzen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Bett mit einem Nachtkasten, daneben ein alter Mahagonikleiderschrank. “Den Schreibtisch, kleines Fräulein, den dürfen Sie nicht verschieben. Den hat mein Seliger schon vors Fenster gestellt. Und dann hat er auf den schönen Baum gesehen. Ach ja...” Ein tiefer Seufzer folgte dem abgebrochenen Satz der Wirtin, die sich an Gaby vorbei ins Zimmer geschoben hatte. “Und Herrenbesuch ist natürlich nicht gestattet.” Ihre Augen suchten Norbert, der hinter Gaby im Flur stand. “Dies ist ein anständiges Haus.” — “Natürlich.” Gaby lächelte schwach. Die Naht über dem rechten Auge schmerzte noch ein wenig. Aber man sah ihr nichts mehr an. “Ich will auch keinen Herrenbesuch. Wenn mein Freund mich abholt, wartet er unten im Flur auf mich. Nicht wahr, Norbert?” Norbert hatte nur genickt. Er ging noch immer gebückt unter Schuldgefühlen, daß er Gaby nicht rechtzeitig zu Hilfe hatte kommen können. Als er sie so zusammengeschlagen gesehen hatte, hatte er geweint. “Ich bringe das Schwein um.” Gaby hatte nach seiner Hand getastet. Sie wußte, Norbert konnte keiner Fliege etwas zu leide tun. Er haßte Gewalt.
    Umbringen brachte nichts. Es würde Mutti auch umbringen. Nein, eines Tages werde ich mich an ihm rächen, hatte Gaby gedacht. Eines Tages, wenn ich keine Rücksicht mehr zu nehmen brauche. Sie hatte damals schnell eine Arbeitsstelle gefunden. Ihre Abschlußprüfung vor der Handelskammer hatte sie mit “gut” bestanden. Sie verdiente genug, um ein Zimmer bezahlen zu können und um zu essen und zu trinken. Ich bin frei, dachte sie. Doch bald hatte sie gemerkt, daß Pappi nicht so einfach aufgab. “Da hat sich ein älterer Mann nach Ihnen erkundigt”, erzählte ihr abends die Wirtin. “Wann Sie zu Hause sind und wo Sie arbeiten. Ein Onkel von Ihnen, sagte er. Und er käme wieder.” Gaby war es eiskalt geworden. Pappi. Er hatte ihre Spur aufgenommen. Wenn sie bei Mutti anrief, legte die immer gleich wieder auf. “Du bist für mich gestorben”, hatte Mutti bei ihrem ersten Anruf gesagt. “Nie werde ich dir das verzeihen.” Gaby versuchte, nicht mehr daran zu denken. Nicht an Mutti, nicht an ihren kleinen Bruder Mark und vor allem nicht an Pappi. Doch Pappi brachte sich selbst immer wieder in Erinnerung. Er rief sie in der Firma an. Tagein, tagaus. “Hallo”, sagte er mit sanfter Stimme. “Kannst du überhaupt ohne mich leben?” Oder: “Du weißt doch, daß ich immer bekomme, was ich will.” Wenn sie zu ihrer Arbeitsstelle ging, sah sie sich scheu um. Sie erwartete jederzeit, daß er hinter einem Baum auftauchen würde, ihr den Weg versperren wollte. Wenn sie abends mit Norbert spazierenging, glaubte sie manchmal, seinen Schatten zu sehen. Ich will fort aus Hamburg, dachte sie.

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