Zuendels Abgang
Antwort, aber er dachte: Du kapriziöse Büchsenmilch. -Sie sah ihn forschend an mit ihren braun-orangen Augen und wisperte: On y va?
Ihre Wohnung in der Altstadt von Rapallo war düster und winzig. Nounou legte eine verkratzte Flamenco-Platte auf und flocht ihr schwarzes Haar zu einem Zopf.
Dann kochte sie Reis. Hin und wieder öffnete sie ein Glas mit Heidelbeerkonfitüre, steckte den Mittelfinger hinein und schleckte ihn ab.
Zündel sah ihr vom Stübchen aus zu. Er saß in einem ledernen Fauteuil, der die Form eines Boxhandschuhs hatte. Auf dem Boden lagen unzählige teils nur vorgedruckte, teils schon kolorierte Blätter, die alle das gleiche Motiv zeigten: Schiffchen in einer Bucht vor einer Strandpromenade mit Palmen vor einer malerischen Häuserkulisse vor einem Schäfchenwolkenhimmel. - Du meine Güte! dachte Zündel, und Nounou rief im selben Augenblick: Ich lebe davon, den Menschen gefällt das! - Er rief zurück: Warum kannst du so gut Deutsch? - Nounou rief: Laß mich in Ruhe! - Darf ich wenigstens rauchen? fragte er. Sie antwortete nicht, sondern hüpfte auf einem Bein in die Stube und küßte Konrad auf den Mund. Dann setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden und blickte minutenlang ins Leere. Ehe sie wieder aufstand, um sich um den Reis zu kümmern, sagte sie: Immer rede ich nicht viel. Ihre Stimme war dunkel und schön.
Zündel aß wenig. Ihm fehlte seit Tagen der Hunger. Dem Wein aber sprach er zu, bis seine Verspanntheit sich löste. - Der Alkohol macht mich gegenwartstauglich, sagte er zu Nounou. Nach fünf bis sechs Gläsern verliert der Polizeihund in meinem Gehirn fast alle Zähne. Nach weiteren zwei Gläsern hört er zu knurren auf, und die Gegenwart wird geschichtslos und seidig. Vielleicht ist die Liebe zum Alkohol das Produkt einer Kultur, die jede Lebensminute für kommentarbedürftig und für kontrollwürdig und für rechtfertigungspflichtig erklärt. -Schwatze ich dir zuviel? - Nounou sagte: Ich hatte eine Schulfreundin. In ihrem Zimmer hingen drei große Tafeln. Eine über dem Bett, eine über ihrem Arbeitstisch und eine an der Tür. Auf jeder dieser Tafeln stand der gleiche Spruch. Später, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, schluckte sie achtzig Schmerztabletten. Beatrice hieß sie.
Nounou verstummte, und Zündel fragte ungeduldig, was denn auf den Tafeln gestanden habe. - Rate! sagte sie. Er riet: ›Hab Sonne im Herzen‹? - Falsch, ganz falsch! ›Arbeit macht frei‹? - Nein! - ›Sündige niemals‹? -Schon besser! - ›Der liebe Gott sieht alles‹? - Beinahe! sagte Nounou, aber es fehlt noch die pädagogische Raffinesse. - So sag es endlich! rief Konrad. - Küß mich, und ich sag es dir! versprach sie. Er beugte sich sofort über den Tisch, aber bevor er bei ihren Lippen angelangt war, riß sie die Arme hoch, stieß ihn zurück und schrie entrüstet: Was würde Jesus dazu sagen? - Einen Moment lang war Zündel so verdattert, daß Nounou vor Freude quietschte. - Jetzt weißt du's! sagte sie. Arme Beatrice. Jesus war ihr Polizeihund. Nach einer Weile sagte er: Solche Eltern gehören ausgepeitscht! - Nein! sagte sie. - Doch! sagte er. - Nein, sagte sie, alle Eltern gehören ausgepeitscht, denn alle machen alles falsch! Aber da die meisten Menschen für die Fehler ihrer Eltern dankbar sind, weil diese Fehler die eigenen Fehler entschuldigen, gehören die Eltern doch nicht ausgepeitscht. Voilà. Und nun willst du also mit mir schlafen? Davon weiß ich nichts, sagte er. - Aber ich! erklärte Nounou. Ich weiß es. Ihr habt immer erotische Hintergedanken. Ihr redet einen Abend lang mit einer Frau, aber all eure Sätze haben etwas Lauerndes, und eure Augen verraten heimlichen Verdruß darüber, daß all diese Sätze, die das Zupacken bloß hinauszögern, überhaupt nötig sind. Zündel sagte: Es war einmal ein Mütterchen, das hatte sieben junge Töchterchen. Eines Tages rief sie alle sieben herbei und sprach: Liebe Töchterchen, seid auf eurer Hut vor den Männern, denn die wollen immer nur das Eine von euch. Die Bösewichte verstellen sich zwar oft, aber an ihrem rauhen Organ könnt ihr ihre Absicht erkennen! - Was ist ein Organ? fragten neugierig die Töchterchen. Das Mütterchen sprach: Ich muß jetzt gehen, sonst verpasse ich das Postauto. - Die braven Töchterchen sagten: Liebe Mutter, wir wollen uns in acht nehmen, heute und immerdar!
Haha! erwiderte Nounou und streckte Zündel die Zunge heraus. Dann verschwand sie im Schlafzimmer. Kurz danach stand sie nackt und
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