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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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Sammelsurium von lautstarken Mini-Gruppen, von Besserwissern, Wichtigtuern, Wirrköpfen, Schwätzern, Schwärmern und Schaumschlägern blökt und poltert und zetert herum und posaunt die immer gleichen abgestandenen Parolen und Proteste in eine Welt hinaus, die ohne sie soviel stiller, gesünder, positiver und feierabendlicher wäre. - Wir fordern: Schluß mit der üblen Nachrede! Schluß mit der Schmähung des Erdballs! Schluß mit dem selbstgerechten Anti-Schöpfungs-Geschnatter! Schluß mit dem ganzen zersetzenden Radau! - Wir wollen tolerant sein gegenüber den kleinen Unzulänglichkeiten dieser Welt, aber wir dulden nicht länger jene notorischen Nörgler, die sich klüger dünken als unser Herrgott und deren wahre Absicht es ist, das Chaos herbeizumeckern.

    An einem der Kioske im Hauptbahnhof Genua kaufte Zündel Zigaretten. An einer Stehbar trank er Kaffee. Zwischen den Schnapsflaschen, die ihm gegenüber vor einer Spiegelwand standen, erblickte er sein graues, fremdes Gesicht und erinnerte sich an den Vorsatz, einen Revolver zu kaufen. Er war erschöpft.
    Auf dem Weg zu seiner Pension staunte er über die Reinlichkeit der Gassen, die eben zu erwachen begannen. Wie energisch sich öffnende Augen rasselten Rolläden hoch.

    Zündel schlief bis zum Abend.
    Gegen sieben Uhr stand er auf, trank etwas Wasser und dachte:
Was tu ich jetzt.
Er schnitt sich die Fingernägel.
Heute ist Donnerstag, dachte er.
Und morgen ist Freitag.
Hunger habe ich nicht.
    Wäre ich Brillenträger, so würde ich jetzt noch die Brille putzen.

    Er legte sich wieder ins Bett.
    Um Mitternacht erwachte er schweißgebadet und fröstelnd. Er machte Licht.
    Geträumt. Ich hänge in einer Steilwand. Vor mir schwebt der Rettungshelikopter. Am Steuerknüppel sitzt mein Vater und mustert mich ruhig. Dann dreht er ab.

    18

    Abgesehen von zwei bis drei Schwarzfahrten im Zürcher Tram und von einigen wenigen Verstößen gegen Straßenverkehrsregeln hatte sich Zündel noch keiner Übertretung des Gesetzes schuldig gemacht. Umso verwegener kam er sich vor, als er am frühen Freitagabend durch die Gassen strich, mit dem Vorsatz, es heute zu wagen. Der Revolver mußte jetzt her. Was nützte ihm das vierschrötige Sturmgewehr zu Hause im Schrank, das er niemals freiwillig berührte? Nein, fällig war jetzt eine Faustfeuerwaffe, am ehesten ein Revolver, ein schlichter, kleiner, anspruchsloser Revolver. - Eine Pistole kam weniger in Betracht. Pistolen haben Magazine, und Magazine haßte Zündel seit der Rekrutenschule. (Am zweiten oder dritten Tag hatte man den Neulingen die Handhabung des Sturmgewehrs - insbesondere das Einsetzen des Magazins - beigebracht, und von der ganzen Kompanie waren es nur zwei Rekruten, die - unter Anleitung eines verzweifelten Leutnants - bis tief in die Nacht hinein übend im Gang der Kaserne lagen, unfähig, sich in den simplen Handgriff einzufühlen: nämlich Zündel sowie ein offenkundiger Halbidiot namens Bölsterli, der nach einer Woche wieder nach Hause durfte.)
    Also, ein Revolver. Gemäß Wörterbuch: Una rivoltella. - Una rivoltella con cinquanta colpi. Mit fünfzig Schuß. Der Typ, der Zündel soeben »Haschisch!« zugezischt hat, ist der richtige: starkes Kinn, behelfsmäßige Rasur, gefährliche Augen - der echte Schwarzmarktganove. Zündel bleibt stehen und sagt leise, aber bestimmt: Una rivoltella. - Der andere zuckt nicht mit der Wimper, flüstert nur: Komm, aber geh hinter mir!
    Er lotst Zündel in eins der vielen Gäßchen, welche die Via di Prè mit der Via Gramsci, der Hafenstraße, verbinden und kaum breiter sind als anderthalb Meter. Zündel behält die Augen offen: Das Gäßchen heißt Vico dell Amore, und am unteren Ende, kurz vor der Einmündung in die Hafenstraße, befindet sich ein offenes Pissoir. Dort steht der Kerl mit gespreizten Beinen und tut, als ob. Mit dem Kopf winkt er Zündel heran. Der stellt sich neben ihn, tut ebenfalls, als ob. Der Kerl sagt: Heiße Carlo, kannst dich auf mich verlassen. Da vorn, an der Hafenstraße, zweihundert Meter weiter links, findest du ein Waffengeschäft. Geh voraus, schau dir die Auslage an, ich bleibe in Sichtweite.
    Zündel hält diese Sicherheitsmaßnahmen für übertrieben, aber wer die Gepflogenheiten im Untergrund kennt, ist schließlich Carlo und nicht er.
    Er schreitet also los und denkt an Serafino, mit dem er hier flanierte, Arm in Arm.
    Schon lehnen die ersten Dirnen an den Hauswänden und an den Kühlerhauben geparkter Autos. Da ist die

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