Zuendels Abgang
in dieser Standardsituation auch gedacht hätte. Statt dessen versuchte er eine Weile lang, seine Umwelt sprach- und gedankenlos wahrzunehmen, merkte aber schnell, daß er es nicht konnte, fragte sich, ob dies anderen gelänge, wußte plötzlich nicht mehr, ob der Mensch vier, fünf, sechs oder sieben Sinne habe, dachte, das sei eigentlich eine Schande, aber symptomatisch für eine Kopfkultur; dachte dieses, dachte jenes, sprang auf und schiffte hässig ins Meer.
Während des Weiterwanderns stellte er sich vor, er sitze mit Nounou beim Frühstück.
Nounou sagt: Wie war's mit einem Spielchen? Er sagt: Einverstanden.
Nounou sagt: Ich stelle dir eine Frage, und du mußt sie beantworten. Ist deine Antwort richtig oder wenigstens gut, bekommst du ein Zündholz. Dann darfst du mich etwas fragen. Wenn meine Antwort richtig oder wenigstens gut ist, bekomme ich ein Zündholz. Wer zuerst fünf Zündhölzer hat, hat gewonnen. Er sagt: Einverstanden, du kannst anfangen! Nounou fragt: Was ist das Unheimlichste? Er antwortet: Ein langer Kuß bei offenen Augen. Sie schiebt ihm ein Zündholz zu.
Er fragt: Wie ist es zu erklären, daß sich von hundert Frauen zweiundneunzig einen Mann mit haariger Brust wünschen?
Nounou antwortet: Weil acht nicht ehrlich sind. Er schiebt ihr zwei Zündhölzer zu, aber sie weist eines zurück. Sie fragt: Warum gibt es Treue?
Er antwortet: Weil es die Angst gibt vor der Untreue des andern.
Nounou sagt: Erläutern bitte!
Er sagt: Der Treue ist treu, weil ihn die Vorstellung schreckt, daß eine Untreue seinerseits eine Untreue seines Partners provozieren könnte.
Eine halbe Wahrheit! sagt Nounou und schiebt ihm ein halbes Zündholz zu.
Er fragt: Warum sehen alle hohen Politiker wie Tiere aus? Sie antwortet: Weil die meisten von ihnen Schweine sind, einige auch Wölfe, Füchse, Geier, Gänse und Tausendfüßler.
Nounou bekommt ein Zündholz. Sie fragt: Wie heißt das Motto der Schweizer? Er antwortet: Es gibt mehrere. Sie sagt: Zähl zwei davon auf!
Er sagt: Erstens: Alles erleben und nichts riskieren. Zweitens: Marschtüchtig sein und bleiben. Nounou gibt ihm ein Zündholz.
Er fragt: Wievielmal größer als die männliche Samenzelle ist die weibliche Eizelle?
Sie antwortet: Keine Ahnung. Darf ich schätzen? Klar, sagt er großzügig, dreimal darfst du raten! Doppelt so
groß? Nein.
Elfmal größer? Nein!
Hundertmal größer?
Nein, Nounou, das gibt leider kein Zündholz! Die Eizelle ist nämlich fünfundachtzigtausendmal größer als die Samenzelle!
Mon Dieu! ruft Nounou begeistert, und mit solchen Knirpsen geben wir Frauen uns ab! Du bist an der Reihe! sagt er gekränkt. Sie fragt: Warum gibt es für ›Durchfall‹ so viele verschiedene, auch wüste Wörter, nicht aber für ›Verstopfung‹? Er antwortet: Weil wir alle vor dem Übersinnlichen mehr Respekt haben. Erläutern! befiehlt sie. Er sagt: Was nasen- und augenfällig ist, wird keck und wortreich beplappert; was aber verborgen ist und noch nicht sichtbar, nötigt uns stumme Ehrfurcht ab. Plausibel! sagt Nounou und überreicht ihm ein Zündholz.
Er fragt: Was für einen Namen gaben die Amerikaner der Hiroshima-Bombe?
Sie antwortet: Ich weiß es nicht, und solche Fragen passen nicht in ein Spiel!
Er meint: Du hast recht, aber ich will dir die Antwort trotzdem sagen. Die Bombe hieß »Little Boy«. Das ist nicht wahr! schreit Nounou. Es ist die blanke Wahrheit, sagt er. Sie fragt: Pansoti, warum gibt es schlechte Menschen? Er antwortet: Ich weiß es nicht. Sie sagt: Dann hast du kein einziges Zündholz verdient.
S. Margherita, Bhf, 30. 7., frühmorgens
Aber etwas anderes, liebe Nounou, etwas anderes weiß ich: Immer mehr Menschen haben die Nase voll. In meiner Heimat zum Beispiel gibt es bereits Bürger, die mit Spruchbändern durch die Gegend laufen, auf denen geschrieben steht: »Wir wollen unsere Ruhe!« Sie haben die Nase voll, sie sind übersättigt, sie haben genug, aber nicht etwa vom Schlechten, sondern vom Protest gegen das Schlechte! Und im Windschatten dieser Verneinungsüberdrüssigen, dieser Ruhebedürftigen und freiwillig Blinden, die ihre verlorene Sehkraft als Optimismus und ihre Übersättigung als Daseinsfreude ausgeben, entfaltet sich schmunzelnd das Miese und darf getrost damit rechnen, daß nicht es selbst, sondern sein Kritiker für kriminell gehalten wird.
Im Zug nach Genua, 30. 7., 5.30 Uhr Kleine Resolution der Ruhebedürftigen: Wir Ruhebedürftigen stellen ein für allemal fest: Ein wildes
Weitere Kostenlose Bücher