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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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ihm wahrhaftig zumute, als eile er zu einem Rendezvous, so heiß waren seine Wangen, so erwartungsfreudig pochte sein Puls. Dazu kam die Genugtuung, eine gewiß nicht alltägliche Lage relativ sicher gemeistert zu haben. Wie gut war alles gegangen, wie lebensgefährlich schief hätte es gehen können!
    Er verschloß die Tür.
    Er legte das Paket aufs Bett, und sofort durchschnitt er mit seinem Taschenmesser die Schnüre. Dann entfernte er das Packpapier, sah, daß die Schachtel noch in Zeitungspapier eingeschlagen war, entfernte auch dieses, entfernte die vier um die Schachtel gewickelten Klebstreifen und hob - mit einem ihm selbst fast unheimlich vorkommenden Gefühl der Zärtlichkeit - den Deckel. Da lag, gebettet auf grüne Holzwolle, ein Stück Gips. Weiß und feierlich.
    Mit beiden Händen klammerte sich Zündel an sein Gesäß. Nur große Selbstbeherrschung bewahrte ihn davor, hemmungslos zu kreischen. Er stampfte dreimal auf und knirschte mit den Zähnen. Dann setzte er sich geschwächt neben die Schachtel aufs Bett und sagte laut: So ein gigantischer Sauhund! - Aber noch lauter sagte er: Und ich bin das schwachsinnigste Arschloch der Weh. Jetzt reicht's. Ich bin nicht nur vertrauensselig und weltfremd, ich bin schlicht und einfach ein strohfeigendummes Kalb. Er nahm das unförmige und recht schwere Stück Gips in die Hand, betrachtete es und murmelte: Soso, Kaliber 38 Special, soso.
    Dann griff er zur Sicherheit nochmals unter die Holzwolle, gerade so, wie ein noch nicht ganz zufriedengestelltes Kind sein Osternestchen nach zusätzlichen Überraschungen absucht. Aber alles, was er fand, war eine Patronenhülse. Er lachte höflich. Lange saß er auf dem ett.

    Wut und Enttäuschung legten sich allmählich, die Scham blieb länger.
    Gegen halb elf war nichts mehr in ihm als kalte Gelassenheit und ein wenig Trauer darüber, daß es ihm nicht gelang, sein Erlebnis lustig zu finden. Mein ganzer Humor ist plötzlich im Eimer, dachte er. Der Hunger ist weg, der Humor ist im Eimer, die Frau ist im Eimer, der Colt ist im Eimer. In meinem Mund steckt ein klobiger Stiftzahn, in meinem Gesicht eine fettige Nase und in meiner Ferse ein schmerzender Stachel. Irgendwo hocken zwei Gauner, essen und trinken fürstlich und wiehern über den Tolpatsch, den sie gemolken haben. So ist das Leben. Heute ist Freitag. Morgen ist Samstag. Übermorgen reise ich nicht nach Tripolis, sondern nach Hause, denn die Ferien sind zu Ende, und ich war, bin und werde sein ein artiger artiger Mensch.

    19

    Um sechs Uhr früh war er bereits hellwach. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zur Decke. Die Fahndung verläuft im Sand, dachte er. Man könnte zwar sagen, die Ursache einer Lebensbetrübnis bestehe in der Summe aller Mißgeschicke. Aber dagegen spricht die Tatsache, daß auch hundert Mißgeschicke es nicht fertigbringen, einem Daseinsfrohen seine Daseinsfreude zu rauben. Wenn es also eine Lebenslust trotz und mit Mißgeschicken gibt, müßte man eigentlich auch eine LebensUnlust gelten lassen, die ohne Mißgeschicke auskommt. (Nebenbei: Warum werden jene, die alles haben und trotzdem unglücklich sind, geringer geschätzt als die, welche nichts haben und trotzdem glücklich sind? Erklärungsbedürftig ist beides, aber nur der Unglückliche ist zur Auskunft verpflichtet.)
    Wo bin ich stehengeblieben? - Ja, wenn es also eine mißgeschicklose Betrübnis gibt und andrerseits - ich denke an mich - eine mißgeschickbefrachtete, dann, dann... -welch ein Quark! Aber es ist mir recht, wenn ich langsam verblöde. - Kurz und gut, es könnte sein, daß alle Heimsuchungen und kleineren Schicksalsschläge nicht die Ursache meiner Gemütslage sind, sondern deren Folge. Vielleicht stimmt meine Verfassung mich empfänglich für Ereignisse, die meine Verfassung erklärbar machen. Vielleicht ertrotzt sich meine Lebensunlust das Unlustige, um nicht grundlos erscheinen zu müssen, um das Rätselhafte auszubooten, um zu verhindern, daß die Fahndung im Sand verläuft.
    Also. Hans bekommt die Grippe. Fritz nicht. Eine Frage der Anfälligkeit, wie jedermann weiß. Die Grippe sucht sich den Hans aus, weil der Hans sich nicht wehrt. An Hansens Abwehrschwäche ist nicht die Grippe schuld. Wohl aber verstärkt sie sein Gefühl der Schwäche. Gefragt ist nach den Ursachen von Hansens Schwäche. Gefragt ist nach den Ursachen eines Lebensgefühls. Warum ist Fritz glücklich? Fritz hungert nicht, dürstet nicht, friert nicht, hat eine Wohnung, hat Arbeit,

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