Zuflucht Im Kloster
waren sehr alt, sahen aber immer noch so scharf wie eh und je. Sie konnte die winzigen, ordentlichen Stiche sehen, die das Mädchen machte.
»Ist das Susannas Gewand?« fragte sie scharf. »Wie ist dieser Riß hineingekommen? Und ausgewaschen ist der Saum auch! Zu meiner Zeit haben wir unsere Kleider aufgehoben, bis sie so dünn wie Spinnweben waren, und dann erst haben wir daran gedacht, sie wegzuwerfen. Aber heute gibt es ja keine Sparsamkeit mehr! Sobald etwas einen Riß hat, gibt man es den Bettlern! Verschwender!«
Offenbar hatte die alte Frau heute an allem etwas auszusetzen und war entschlossen, sich und allen anderen zu beweisen, daß ihre Stimme noch Gewicht hatte. An solchen Tagen war es besser, nichts zu sagen oder, wenn Antworten erwartet wurden, diese so kurz und ergeben wie möglich ausfallen zu lassen.
Rannilt war froh, als Bruder Cadfael eintrat. In seinem Beutel hatte er die Arzneien für das Geschwür, das am Knöchel der alten Dame aufzubrechen drohte. Die dünne, spröde Haut entzündete sich bei der kleinsten Verletzung. Seine Patientin saß reglos und aufrecht in ihrem Winkel und erwartete ihn. Sie schien diesmal schweigsam und in Gedanken versunken zu sein, aber als er eintrat, nahm sie ihre Kraft zusammen, um, zumindest in Gegenwart dieses freundlichen Feindes, ihren Ruf zu verteidigen, sie sei eine grimmige, bissige, eigensinnige Frau, die, wie ihre Familie, immer den entgegengesetzten Weg einschlug. Wenn jemand schwarz vorschlug, entschied Juliana sich für weiß.
»Ihr solltet diesen Fuß hochlegen«, sagte Cadfael, während er die kleine, aber häßliche Wunde säuberte und einen neuen Verband anlegte. »Das wißt Ihr nur zu gut, und ich habe es Euch schon oft genug geraten. Vielleicht sollte ich Euch lieber sagen, daß Ihr den ganzen Tag herumlaufen sollt – wahrscheinlich würdet Ihr dann das Gegenteil tun, und dann könnte diese Wunde heilen.«
»Ich bin gestern in meinem Zimmer geblieben«, antwortete sie kurz, »und bin es von Herzen leid, im Bett zu liegen. Was weiß ich, was sie hinter meinem Rücken alles aushecken, während ich in meinem Zimmer bin? Hier kann ich wenigstens sehen, was geschieht, und meinen Mund aufmachen, wenn ich meine, Grund dazu zu haben – und das werde ich bis zum Ende meiner Tage tun.«
»Ohne Zweifel!« nickte Cadfael, während er den Verband sauber verknotete. »Ich habe es noch nie erlebt, daß Ihr etwas anderes tut, als das, was Ihr wollt, und es sollte mich wundern, wenn Ihr Euch auf Eure alten Tage ändern solltet. Und wie geht es Euch sonst? Keine Schmerzen in der Brust? Kein Schwindelgefühl?«
Sie hätte das Gefühl gehabt, zu kurz gekommen zu sein, wenn er ihr nicht Gelegenheit gegeben hätte, sich über einen stechenden Schmerz hier oder einen Krampf da zu beklagen, und sie nahm es ihm nicht übel, daß er auf diese Beschwerden nicht weiter einging. Das alles diente ja nur dazu, die endlosen Stunden des Tages zu überlisten, die, kaum daß sie vorüber waren, für immer entschwunden zu sein schienen wie Wasser, das einem durch die Finger rinnt.
Rannilt hatte ihre Näharbeit beendet und brachte das Gewand in Susannas Kammer, um es in die Kleiderpresse zu legen; im selben Augenblick trat Susanna aus der Küche und blieb stehen, um Cadfael höflich zu begrüßen und ihn zu fragen, was er vom Gesundheitszustand der alten Dame hielt und ob sie die Arzneien, die er ihr nach ihrem Anfall verschrieben hatte, weiterhin nehmen solle.
So unterhielten sie sich, als Daniel und Margery zusammen eintraten. Ihr Erscheinen, und insbesondere ihr Schweigen, hatte etwas Feierliches an sich – man hatte den Eindruck, daß sie eben noch, auf der Schwelle, leise und eindringlich miteinander gesprochen hatten. Sie begrüßten Cadfael nur beiläufig, allerdings nicht aus Unhöflichkeit, sondern eher, weil ihre Gedanken auf etwas anderes fixiert waren und ihre Konzentration nicht einen Augenblick lang nachlassen durfte.
Cadfael spürte die Spannung, und auch Juliana, so schien es ihm, erging es nicht anders. Nur Susanna bemerkte anscheinend nichts Außergewöhnliches – zumindest verriet ihre Haltung nichts dergleichen.
Die Anwesenheit einer Person, die nicht zur Familie gehörte, war vielleicht störend, aber Margery hatte nicht vor, sich von dem, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, abhalten zu lassen.
»Daniel und ich haben über einiges gesprochen«, begann sie, und für jemanden, der so sanft und nachgiebig wirkte, war ihre Stimme bemerkenswert fest
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