Zuflucht im Teehaus
essen?«
»Wollen Sie nicht zuerst Ihre Mutter fragen?« Das klang fast, als verabredeten sich zwei Zehnjährige zum Spielen.
»Ich glaube, das wäre … nicht angebracht«, sagte Akemi. »Wahrscheinlich ist es sogar besser, wenn wir uns nicht in Kamakura verabreden. Ich habe aber auch nicht die Zeit, nach Tokio zu fahren. Sollen wir uns irgendwo auf halbem Weg treffen?«
»Vielleicht in Yokohama? Ich könnte so gegen halb sieben dort sein.«
»Wunderbar. Dann treffen wir uns vor Yurindo Books in der Yokohama Station. Und erzählen Sie Ihrem Freund nichts davon.« Akemi legte auf, bevor ich sie noch etwas fragen konnte.
Im Toyoko Express nach Yokohama gab es ein großes Problem: Die Klimaanlage war ausgefallen. Zwar waren die Fenster offen, aber die Hitze in dem völlig überfüllten Wagen war trotzdem unerträglich. Geschäftsleute im Nadelstreifenanzug und ältere Damen in Nylonkleidern fächelten sich mit traditionellen, paddelförmigen Fächern Luft zu, während die jüngeren kalte Limonadendosen an die Stirn preßten. Ich las ein Werbeplakat für eine Reise nach Alaska, nur 1600 Dollar für fünf Tage auf einem Gletscher. Plötzlich wirkte die Aussicht, mich in der Kälte aufzuhalten und noch dazu weit, weit weg von all meinen Problemen zu sein, ausgesprochen verführerisch; nur schade, daß mein Bankkonto da nicht mitmachen würde. Noch ein Jahr zuvor, als ich gegen ein festes Gehalt Englisch unterrichtet hatte, hätte ich mir das leisten können.
Die eisige Klimaanlagenluft in der Yokohama Station war ein Segen. Ich ging durch die kleine Lumine-Einkaufspassage zu Yurindo Books, und da ich Akemi noch nirgends entdecken konnte, schlenderte ich durch die Abteilung mit den fremdsprachigen Büchern. Ich blätterte gerade in einem englischen Krimi und stellte fest, daß das Schlafmittel meine Sehkraft vorübergehend beeinträchtigt hatte, als Akemi mir auf die Schulter tippte.
»Tolles Wetter«, sagte sie, nicht ohne Ironie. »Ich liebe Sommerabende. Sollen wir nach Chinatown gehen?«
Mit dem Zug war man von Yokohama schnell im chinesischen Viertel, so daß ich nie auf die Idee gekommen wäre, zu Fuß zu gehen, aber trotzdem nickte ich und folgte meiner sportlichen Freundin hinaus in die schwüle Hitze.
»Ihre Augen sehen schrecklich aus, ganz verschlafen und glasig. Haben Sie eins von den Schokoladenplätzchen gegessen, die Angus gebacken hat?« fragte Akemi, als wir auf den Fluß zugingen.
»Nein, ich habe NyQuil genommen, ein Schlafmittel, das man rezeptfrei in jeder Apotheke bekommt.« Ich war überrascht, wie zwanglos sie über ihre Ohnmacht auf der Party sprach. Was hatte ihre Mutter ihr erzählt?
»Ich dachte mir, vielleicht wollen Sie was Anständiges essen, denn als ich nach dem Zeug aufgewacht bin, hatte ich einen Bärenhunger. Ich hätte gern noch ein Schokoladenplätzchen gegessen, aber Angus hatte sie schon weggenommen.«
»Dann wissen Sie also Bescheid?« Ich wußte nicht, ob ich entsetzt oder erleichtert sein sollte.
»Natürlich! Angus hat mir vorher alles genau erklärt; ich hab die Plätzchen aus Neugierde probiert. Wissen Sie, ich interessiere mich für Drogen. Schließlich hab ich selber Steroide genommen.«
»Das wußte ich nicht. Aber doch sicher nicht bei der Olympiade, oder?«
»Doch. Leider hat mein Trainer mir die falschen Präparate gegeben, die, die man bei Tests feststellen kann.«
Ich sah mich nervös um, aber keiner der Passanten schien sich sonderlich für zwei verschwitzte junge Frauen zu interessieren, die sich auf englisch unterhielten.
»Tja, und danach gab’s eine Abmachung: Ich durfte weiter an den Wettkämpfen teilnehmen, wenn ich alle verlor. Wenn ich nicht mitgespielt hätte, wäre das Judo-Komitee darüber informiert worden.«
»Wie viele Leute wissen davon?« Ich war entsetzt, wie locker Akemi die Geschichte erzählte.
»Mein früherer Trainer, der Arzt und meine Eltern, die es für weniger peinlich hielten, die Wettkämpfe zu verlieren als wegen Betrugs disqualifiziert zu werden.«
»Dann haben Sie sich also in Ihren Kämpfen gar keine Mühe gegeben zu gewinnen?« Irgendwie machte mich das wütend. Ich hatte die Olympischen Spiele in Seoul hauptsächlich der japanischen Athleten wegen verfolgt und war am Boden zerstört gewesen, als Akemi sich so schnell geschlagen gab.
»Nein. Ich hab den Koreanern und Chinesen kampflos das Feld überlassen«, sagte Akemi mit einer Stimme, die nicht ihr zu gehören schien. »Niemand konnte damals diesen
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