Zuflucht im Teehaus
Erst beim Gehen merkte ich, daß ich eigentlich nicht wieder in das Teehaus wollte. Wajin wußte zu viel über mich, und das, was ich nach und nach über Nana Mihori herausfand, war alles andere als ermutigend. Ich ging zuerst zum Haus der Mihoris, um meinen Handy-Akku zu holen. Aus den Büschen heraus beobachtete ich Miss Tanaka, die die Wäsche der Familie von der Leine holte; auch mein schwarzer Baumwollslip, mein T-Shirt und meine Shorts hingen dort. Als sie meine Sachen stirnrunzelnd betrachtete, beschloß ich, meine Wäsche fortan selbst in dem Waldbächlein zu waschen.
Ein Gärtner, der gerade dabei war, die Hecke zu stutzen, fragte sie um Erlaubnis für etwas. Miss Tanaka stellte den Wäschekorb ab und begleitete ihn zum Steingarten.
Das war meine Chance! Ich sprintete zu der halboffenen Terrassentür, und ohne die Schuhe auszuziehen, rannte ich hinein. Mein Telefon-Akku war immer noch im Stecker. Ich zog ihn heraus und hockte bereits wieder hinter der Hecke, als Miss Tanaka zurückkam.
»Was machen Sie da?« fragte mich eine Männerstimme. Direkt vor mir befand sich ein Paar grober Bastsandalen. Als ich den Blick hob, sah ich einen Mönch in Arbeitskleidung, der auf mich herabstarrte. »Dieser Bereich ist für Besucher gesperrt.«
Ich versuchte verzweifelt, so schnell wie möglich eine Erklärung zu finden. »Tut mir leid, ich habe eine Kontaktlinse verloren.« Wonach sonst konnte eine junge Frau auf dem Erdboden schon suchen?
Der Mönch ging neben mir in die Hocke und begann zu suchen. Nach kurzer Zeit gab ich vor, die Linse gefunden zu haben. Ich rappelte mich unbeholfen auf und dankte ihm für seine Hilfe.
»Ist sie nicht durch die spitzen Steine beschädigt worden?« hörte ich eine weitere Stimme fragen, die höflicher und wohltönender war als die des anderen Mannes. Wajin hatte sich zu uns gesellt. Diesmal trug er eine frische blaue Kutte, nicht die erdverschmierte graue. Er legte die Hände zur gebetsähnlichen Begrüßung zusammen. Ich nickte, weil ich die Hände mit dem Telefon und meiner imaginären Kontaktlinse voll hatte.
»Ich glaube, die Linse ist in Ordnung. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …«
»Sie werden sie im Teehaus mit Salzlösung reinigen müssen«, sagte Wajin und folgte mir.
»Ich weiß, was ich machen muß, danke.« Da klingelte zu allem Überfluß auch noch das Telefon, und ich klemmte es zwischen Kinn und linke Schulter.
»Rei-san?« Ich erkannte die Stimme sofort. Es war Jun Kuroi.
»Ich bin ja so froh über diesen Anruf«, sagte ich und verabschiedete mich mit einem Winken von Wajin, der keine Anstalten machte zu gehen.
»Ich muß mit Ihnen reden«, flüsterte Jun. »Aber bitte rufen Sie mich nicht mehr an. Mein Vater hat ein paar Ihrer Nachrichten gehört und möchte mich von Ihnen fernhalten.«
»Wo sollen wir uns treffen? Und warum?« fügte ich hastig hinzu.
»Morgen nachmittag kann ich nach Tokio kommen. Ich könnte Sie um zwei im Yoyogi Park treffen.«
»Jun-san, ich habe einen neuen Job. Ich kann mir nachmittags nicht freinehmen. Ich habe nur am Vormittag oder Abend frei.«
»Gut, dann um elf. Es wird ein bißchen dauern, bis ich von Hakone nach Tokio komme, aber ich muß Ihnen etwas sagen.«
»Ist irgend etwas passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
»Das erkläre ich Ihnen morgen.«
»Wie geht’s mit der Arbeit?« Ich konnte in Wajins Anwesenheit nicht so unbefangen sprechen.
»Ich bin jetzt Nachtwächter im Geschäft meines Vaters. Mein Gesicht ist so bekannt, daß alle meinen, sie könnten den Kunden seinen Anblick nicht mehr zumuten.«
»Das tut mir leid. Alles«, sagte ich.
»Es war meine eigene Dummheit, daß ich Sakai in meinem Wagen mitgenommen habe. Ich muß jetzt aufhören. Ich höre meinen Vater.« Er legte auf.
»War das Ihr Freund?« fragte Wajin, als ich meinerseits das Gespräch beendete und weiterging.
»Nein, und ich bin nicht in der Stimmung, mich zu unterhalten. Ich bin hergekommen, um allein zu sein.«
»Aber das Handy ist immer dabei, neh? «
Ich blieb ziemlich verärgert stehen und sagte: »Sie kennen sich aber ganz schön gut aus mit den Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Ich finde, Sie sind ein ziemlich merkwürdiger Mönch.«
Vom Tempel klang ein Gong herüber.
»Das Abendgebet. Ich muß los.« Wajin hörte sich fast ein bißchen verärgert an. Wie gläubig war er wohl?
»Nun gehen Sie schon, tun Sie Ihre Pflicht«, sagte ich, froh darüber, daß er verschwand.
Zum Abendessen gab’s
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