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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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ablehne, weil es so tut, als wäre das unabänderlich.
    Und da muss ich meinen Sozialdemokraten doch noch einen Satz ins Stammbuch schreiben: Wir müssen aufpassen, dass wir aus dem Sozialstaat nicht eine allgemeine soziale Hängematte werden lassen. Wenn Sie in Dänemark arbeitslos sind – das nehme ich als Beispiel – und gehen zum Arbeitsamt und die Frau im Arbeitsamt sagt: Ich habe hier einen Job für Sie, und der da vor ihr sitzt, sagt: Nein, das möchte ich nicht, das habe ich nicht gelernt, oder er sagt: Das möchte ich nicht, das ist ja in einem anderen Ort, oder er sagt: Das möchte ich nicht, da verdiene ich ja weniger als in meinem alten Beruf – dann schickt sie ihn nach Hause und sagt: Kommen Sie in vier Wochen wieder. Wenn er sich in vier Wochen wieder so verhält, kriegt er weniger Geld. Infolgedessen haben wir in Dänemark eine relativ geringe Arbeitslosigkeit. Vier Prozent hätten wir früher für Vollbeschäftigung erklärt; laut John Maynard Keynes waren vier Prozent Arbeitslosigkeit gleich Vollbeschäftigung.
    Steinbrück:   Das dänische Beispiel spiegelt sich wider in der Philosophie der Agenda 2010, die da lautet: Fördern und Fordern. Es kann sein, dass wir im Fördern nicht gut genug und im Fordern nicht konsequent genug sind. Was in keinem Fall geht, ist, dass man über die Addition von Transfereinkommen ein höheres Familieneinkommen haben kann, als wenn man Vollzeit arbeitet. Ich plädiere stark dafür, dass das Lohnabstandsgebot in jedem Fall zu erfüllen ist; das heißt, diejenigen, die auf einem Vollzeitjob arbeiten, müssen mehr in der Tasche oder auf dem Konto haben als diejenigen, die soziale Transfers der Solidargemeinschaft beziehen. Die Haltung der SPD dazu ist mir manchmal zu indifferent. Ich möchte da eine ganz klare Haltung einnehmen. Damit nicht im achten Stock irgendwo in Dortmund-Huckarde einer morgens um 7 Uhr auf Maloche geht und angemacht wird nach dem Motto: Du bist ja bescheuert, dass du arbeiten gehst, ich guck mir jetzt Frühstücksfernsehen an – und hab trotzdem mehr Cash in de Täsch als du. Damit würden falsche Anreize gesetzt.
    Etwas vorsichtiger wäre ich mit dem Bild von der sozialen Hängematte. Schon deshalb, weil man damit auch Leute trifft, die überhaupt nicht da hinwollen und da auch nicht hingehören. Dass in Deutschland heute wieder von einer sozialen Unterschicht gesprochen wird, halte ich für eine schlimme Entwicklung. Sie haben gerade den Ausdruck »Prekariat« aufgegriffen. Darunter versteht man nicht nur schwerstvermittelbare Arbeitslose, sondern zunehmend auch »atypisch« über Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Verträge schlecht bezahlte Beschäftigte. Ihr Anteil wächst, und da droht die Spaltung des Arbeitsmarktes. Darin liegt sozialer Sprengstoff, meines Erachtens sogar eine Gefahr für die Demokratie, weil sich die Betroffenen abwenden.
    Schmidt:   Das Ganze hängt natürlich auch zusammen mit der Einwanderung aus fremden Zivilisationen. Die Einwanderung aus uns vergleichbaren, ähnlichen Zivilisationen wie Polen, Kroatien oder Slowenien oder Portugal verläuft ohne sonderliche Komplikationen. Die Einwanderung von Menschen aus dem östlichen oder dem kurdischen Teil Anatoliens oder aus Algerien verläuft oft sehr viel schwieriger. Das Problem kulminiert in Großstädten, insbesondere in Berlin. Es ist ein Irrtum gewesen, von »Gastarbeitern« zu reden. Ludwig Erhard, der die Anwerbung in Gang gesetzt hat, wollte den deutschen Lohnanstieg bremsen. Das Motiv war nachzuvollziehen, wenngleich es in meinen Augen ein schlechtes Motiv war. Aber Erhard hat sich geirrt: Viele waren keine Gastarbeiter, sondern sie blieben hier und ließen sich von ihren Eltern eine junge Frau aus Ost-Anatolien vermitteln, und die kriegten zusammen Kinder, und zwar mehr Kinder als nebenan die deutsche Familie. Inzwischen haben wir sieben Millionen Ausländer, alle mit sogenanntem Migrationshintergrund. Ein erheblicher Teil hat keinen Beruf gelernt – und ist deswegen schwer vermittelbar. Und wird deswegen zur sozialen Unterschicht gerechnet.
    Wir müssen begreifen und dann bekennen und dann die Konsequenzen ziehen aus der Tatsache, dass wir Deutschen als Gesamtgesellschaft in Bezug auf die Integration eines erheblichen Teils der Zuwanderer unzureichend geantwortet haben. Wir sind nicht die Einzigen, die unzureichend geantwortet haben; die gleichen Probleme gibt es in Norwegen, in Dänemark, in Schweden, in Holland, in Frankreich sowieso, aber das

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