Zug um Zug
erleichtert die Sache nicht. Es gehört zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben der nächsten Jahrzehnte, diese Zugewanderten wirklich in die Gesellschaft zu integrieren; und dazu gehört der Kindergarten, dazu gehören die Schule und die Lehre, dazu gehört die höhere Schule, und dazu gehört die Hochschule. Sie müssen die Chancen bekommen, die sie zurzeit nicht haben.
Steinbrück: Das gilt allerdings nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund. Vor ein paar Jahren habe ich irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr einen Radiobericht im WDR gehört, in dem es um einen Libanesen ging, der die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen wollte und offensichtlich durch die Sprachprüfung geflogen war. Der Libanese sprach wie wir: Subjekt, Prädikat, Objekt. Er hatte, glaube ich, drei Kinder, zwei auf der Realschule, eines im Gymnasium, aber er bekam die deutsche Staatsbürgerschaft nicht. Die sehr findige Reporterin hat sich nach dem Interview mit ihm aufgemacht und versucht herauszufinden, wie Deutsche denn so reden und wie sprachgewandt sie sind. In einem Zoo im Ruhrgebiet traf sie eine deutsche Mutter mit ihrer vier- oder fünfjährigen Tochter und nahm folgenden Satz auf: »Jakkeline, mach dem Mäh ma ei.« Die Übersetzung lautet: Jacqueline, streichle mal das Schaf. Ein kleines Mädchen mit dieser Sprachkompetenz ist bereits in der ersten Schulklasse die Verliererin. Das heißt, das Thema Integration, Bildungsöffnung stellt sich in meinen Augen nicht vor irgendwelchen rassischen oder religiösen Hintergründen, sondern erstreckt sich genauso auf jenen Teil der deutschen Bevölkerung, der ganz ähnlichen Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildungseinrichtungen ausgesetzt ist wie Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist der Fehler an dem Sarrazin-Buch. Seine Analyse der Integrationsprobleme wird von Fachleuten weitestgehend geteilt. Wenn er es bei dieser Analyse belassen hätte, dann hätte sein Buch einen sehr viel stärkeren Glaubwürdigkeitscharakter gehabt.
Schmidt: Er hätte vor allem die Gene beiseitelassen müssen.
Steinbrück: Da wir schon bei den heißen Themen sind, Helmut, würde ich an dieser Stelle gern etwas zum Mindestlohn sagen. Hier habe ich unter dem Eindruck der zunehmenden Spaltung des Arbeitsmarktes meine Haltung in den letzten Jahren geändert. Ich war vorher ein Skeptiker gegenüber dem Mindestlohn – inzwischen bin ich ein Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohnes. Ich war früher durchaus aufgeschlossen für weitere Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes gerade auch bei Dienstleistungen – und bin heute skeptisch gegenüber Versuchen, die in einer sich ohnehin rasant verändernden Welt zu immer weiterer Auflösung von Strukturen und Regeln beitragen. Es muss ein paar Konstanten geben, es kann nicht sein, dass gerade Menschen am unteren Einkommensrand immer weiter verunsichert werden. Was dort stattfindet an Unsicherheit, nimmt in einem Ausmaß zu, das die demokratische Substanz dieser Gesellschaft verändert. Inzwischen bekommen ungefähr 40 Prozent der 18- bis 24-Jährigen nur noch einen Job über den Umweg eines Praktikums, das überwiegend unbezahlt ist, und einige absolvieren sogar mehrere Praktika. Was heißt es für diese Generation von jungen Männern und Frauen, die gut qualifiziert sind, dass sie sich erst einmal ausbeuten lassen müssen über Praktikumsplätze, um dann – möglicherweise – einen befristeten Arbeitsvertrag zu bekommen?
Schmidt: Peer, haben Sie nur die jugendlichen Praktikanten im Auge, oder haben Sie zugleich im Auge die sogenannten Leiharbeiter, die von einer Beschäftigungsfirma an die Firmen X und Y und Z ausgeliehen werden?
Steinbrück: Auch die. Ich habe im Prinzip durchaus nichts gegen Leiharbeit, aber die Möglichkeit der Leiharbeit ist zunehmend missbraucht worden; und zwar breitet sie sich nicht nur in den Unternehmen selbst aus, sondern große Unternehmen gründen auch juristisch unabhängige Tochterfirmen, in die sie einen Teil ihrer Belegschaft versetzen; damit gehen sie aus dem Tarifvertrag raus und beschäftigen ihre Leute fortan entweder außerhalb des Tarifvertrages oder als Leiharbeiter zu teilweise skandalösen Konditionen. Wenn sich das fortsetzt, werden die Abstiegsängste noch viel stärker zunehmen. Und diese Menschen sind für den Staat verloren, sie erwarten von der Politik nichts mehr, sie erwarten von staatlichen Einrichtungen nichts mehr, sondern sie sagen sich nur: Wir sind die Verlierer in
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