Zug um Zug
Lage jede Unterstützung verdienen, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern höhere Löhne zu verschaffen, die den tatsächlichen Produktivitätsfortschritt in der jeweiligen Branche plus einen Inflationsausgleich widerspiegeln müssen. Das ist vollkommen in Ordnung. Das ist ihre Forderung, mit der sie antreten müssen und die ich für meinen Teil – unter Anerkennung der Tarifautonomie – auch immer unterstützen würde.
Aber auf der anderen Seite verträgt es sich nicht mit meinen Vorstellungen von einer stolzen SPD, dass sie als Verwandte von manchen Gewerkschaftsvertretern nicht selten stärker angegriffen oder kritisiert wird als die CDU/CSU. Ich bin Leidtragender gewesen, ich habe mitgekriegt, wie sie uns 2003 und in den darauffolgenden Jahren bei 1.-Mai-Veranstaltungen angegangen sind. Ich werde nie vergessen, wie sie mobilisiert haben gegen Schröder und Clement und mich und mir meinen Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen aufgemischt haben. Ich habe erlebt, wie manche Gewerkschaftsvertreter in den SPD-Gremien und im Gewerkschaftsrat massiv das Wort erhoben – und dann im Kanzleramt gegenüber Frau Merkel von einer ausgesuchten Höflichkeit und fast nicht zu verstehen waren. Zu dieser Zeit haben sich auf einem DGB-Bundeskongress einige Delegierte demonstrativ mit dem Rücken zur Bühne gestellt, als Franz Müntefering sprach.
Schmidt: Was ich auch nicht vergessen kann – wie gesagt, ich zahle immer noch meine Gewerkschaftsbeiträge –, was ich auch nicht vergessen kann, ist der Umstand, wie einige hochgestellte Gewerkschaftsfunktionäre die ihnen anvertrauten Unternehmen ruiniert haben: zuerst die Bank für Gemeinwirtschaft, dann die Neue Heimat, zuletzt die Großeinkaufsgesellschaft GEG und die Spitzenorganisation der Konsumgenossenschaften.
Steinbrück: Damit sind wir wieder bei einem Mann, über den wir schon gesprochen haben. Derjenige, der den Laden gerade noch gerettet hat, nämlich die Holding der Gewerkschaftsunternehmen, war kein anderer als Hans Matthöfer. Ohne ihn wäre die BGAG völlig abgeschmiert. Übrigens ein alter IG-Metaller.
Schmidt: Auf den Hans Matthöfer konnte man sich verlassen, ein wunderbarer Kerl. – Ich muss noch eine Anmerkung zu der stabilisierenden Bedeutung der Gewerkschaften machen. Unser sozialer Friede hängt auch damit zusammen, dass sich ein deutscher Bundeskanzler natürlich mit den Gewerkschaftern und den Unternehmern und Arbeitgebern an den gemeinsamen Abendbrottisch setzt und man sich auf gleicher Augenhöhe gegenübersitzt. Es hängt auch damit zusammen, dass wir ein Betriebsverfassungsgesetz und Betriebsräte haben. Es hängt auch damit zusammen, dass wir ein Mitbestimmungsgesetz haben, das die Besetzung der Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften regelt. All das hat eine Atmosphäre geschaffen, die im Vergleich zu Amerika oder England unvergleichlich viel friedlicher ist. Dazu kommt die soziale Sicherung durch die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung.
Und es kommt noch etwas hinzu, was man von außen nicht so leicht erkennt. Das ist der Umstand, dass, wenn es um Existenzfragen eines Unternehmens oder eines Teils des Unternehmens geht, in aller Regel der gewählte Betriebsrat besser Bescheid weiß und die Interessen seiner Belegschaft und damit seines Unternehmens besser beurteilen kann als der zuständige hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionär, der neben ihm im Aufsichtsrat sitzt. Der Gewerkschaftsfunktionär hat eine wesentlich bessere Ausbildung, was das Reden angeht. Der Betriebsrat kann meistens nicht so gut reden wie der Gewerkschaftsvorsitzende, aber in der Sache hat er meistens viel mehr recht. Und wenn irgendwo ein Konflikt entsteht zwischen dem Vorstand einer Aktiengesellschaft und seinem Betriebsrat, dann hat in 75 Prozent der Fälle der Betriebsrat recht und nicht der Vorstand.
Steinbrück: Ich habe drei oder vier Fälle erlebt, wo Unternehmen abzustürzen drohten und als Erste die Betriebsräte bei mir waren – und dann erst der Vorstand. Die Betriebsräte waren vor dem Vorstand da und sagten mir: Das Unternehmen droht kaputtzugehen, was können wir tun? Besonders ein Fall hat mich emotional mitgenommen, das war eine kleinere Werft in Kiel. Da kam der Betriebsrat zu mir und sagte: Wir sind in vier oder fünf Monaten illiquide, und dann folgt ziemlich schnell die Insolvenz. Wir wollen unsere Arbeitsplätze retten, wir brauchen eine Kapitalzufuhr; wir haben unsere Belegschaft gefragt, und die ist bereit,
Weitere Kostenlose Bücher