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Titel: Zugriff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Pallay
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des Isländers durch das geöffnete Seitenfenster beschießen.
    Ein waghalsiges und spektakuläres Unternehmen, doch nicht unmöglich. Weil er die rechte Hand immer wieder kurz vom Hals der Geisel nahm, schien ein Präzisionsschuss durchaus denkbar. Eine Einschätzung, die der Einsatzleiter teilte. Nur waren die Präzisionsschützen, die man für eine solche Aktion brauchte und die am Schießstand ein Fünfmarkstück aus 100 Metern Entfernung trafen, noch nicht aus Freising zurück. Um später keine Zeit zu verlieren, wurden für sie einige Vorbereitungen getroffen. So bauten die Leute von der Abteilung Logistik eine provisorische Schützenstellung auf der Ladefläche des kommandoeigenen Kleinlasters auf und brachten diesen anschließend unauffällig in einem Biergarten in Stellung, der etwa 30 Meter vom Volvo entfernt auf der anderen Straßenseite lag.
    Jetzt mussten nur noch unsere Schützen kommen. Leider machte uns der Geiselnehmer einen Strich durch die Rechnung. Nachdem er lange Zeit die Blockade seines Fluchtfahrzeugs widerspruchslos hingenommen hatte, forderte er plötzlich einen uniformierten Polizisten als Chauffeur an. Mit anderen Worten: Er wollte seinen freien Abzug erzwingen. Wenn wir das erlaubten, wären all unsere Planungen nichts mehr wert. Sein Wunsch nach einem Polizisten allerdings kam uns sehr entgegen und eröffnete ganz neue Perspektiven des Zugriffs. Ein anwesender Nahkampfspezialist sollte den Part des Chauffeurs übernehmen und Aron S. nicht nur überwältigen, sondern sich vorher im Austausch gegen den Bibliothekar als Geisel anbieten.
    Trotzdem war ich nach wie vor nicht aus dem Rennen, musste immer noch damit rechnen, dass der unberechenbare Täter urplötzlich mit der Ermordung der Geisel drohte. Dann war ich dran. Einige Meter von dem Volvo entfernt und durch die Verhandlungsgruppe verdeckt lief ich auf und ab, während mein Kopf auf Hochtouren arbeitete. Wie sollte ich den Notzugriff durchführen, falls die wirklich schlechteste aller denkbaren Möglichkeiten eintrat? Und vor allem: Wie konnte ich bei diesem verwirrten Mann die Tötungsabsicht überhaupt eindeutig erkennen? Gut möglich, dass es in diesem Moment bereits zu spät war. Schließlich musste man den bisherigen Erfahrungen nach mit einem völlig spontanen Entschluss rechnen. Unentwegt dachte ich nach, versuchte jedes denkbare Risiko und jede mögliche Reaktion des Geiselnehmers auszuloten, hielt vorsorglich den Griff der Pistole in meiner rechten Hosentasche umklammert und ärgerte mich, weil ich ausgerechnet heute eine enge Hose trug. Wenn er genau hinschaute, würde Aron S. die Ausbeulung durch die Waffe deutlich sehen.
    Half nichts, würde schon gehen, machte ich mir Mut und hielt die Finger weiterhin am Abzug der Heckler & Koch, konzentrierte mich auf den Schusswinkel. Falls es plötzlich losging mit dem Einsatz, wäre es nämlich für solche Überlegungen zu spät. Da musste jede Bewegung sitzen, durfte kein Fehler passieren. Sonst nahm das Drama womöglich ein schreckliches Ende.
    Um den optimalen Schusswinkel zu bestimmen, unterzog ich das Auto einer genauen Musterung. Das dreieckige Ausstellfenster störte mich, weil der Aluminiumrahmen das Geschoss eventuell ablenken konnte. Ich malte mir aus, was in solch einem Fall passierte. Traf dann das Projektil womöglich das Opfer?
    Genauso unerfreulich fand ich den Gedanken, der Isländer könnte das geöffnete Seitenfenster wieder hochkurbeln. Die Scheibe würde bei Beschuss in Tausende Teile zersplittern, die schwere Verletzungen anrichten konnten, aber am gefährlichsten war auch hier eine Ablenkung des Projektils. Lauter Fragen und kaum Antworten. Was wäre wenn, was musste ich bedenken? Was, was, was …
    Eine Meldung riss mich aus meinen Grübeleien. Über Funk – ich trug einen Empfänger im Ohr – hörte ich, dass das Schussfeld geräumt werden sollte, weil die Präzisionsschützen gerade Stellung bezogen. Ich war erleichtert, obwohl ich wusste, dass sich die Sache trotzdem noch hinziehen konnte. Schließlich musste die Erlaubnis zum Schießen erst einmal durch die Einsatzleitung freigegeben werden. Ich nahm meine ruhelosen Wanderungen erneut auf, und zunehmend machte sich in mir ein ungutes Gefühl breit. Auch wenn es meine vorrangige Aufgabe war, das Leben der Geisel zu retten, so bereitete mir die Vorstellung, den Isländer töten zu müssen, Unbehagen.
    Urplötzlich schrie die Geisel auf, es folgte ein Stöhnen. Ich sah, wie vor mir der Psychologe die Hände

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