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Würde er wirklich rechtzeitig wegspringen, bevor die Granate explodierte? Klar, er war einer von uns. Gut ausgebildet und darauf trainiert, in Ausnahmesituationen mit kühler Überlegung zu handeln. Nur: Wie reagierte man, wenn man selbst Geisel war? Ich bezweifelte, dass sich so etwas üben ließ.
Schluss mit den negativen Gedanken, rief ich mich zur Ordnung. Das nutzte niemandem. Und dann öffnete sich schon die Tür. Es war so weit. Hinter der nächsten Ecke lauerten die Männer des Notzugriffstrupps, während mindestens sechs Präzisionsschützen das Fadenkreuz ihres Zielfernrohrs auf diese Tür gerichtet hielten. Jetzt musste nur noch Reinhart S. erscheinen.
Doch heraus kam Hans. Ganz langsam und vorsichtig, die Handgranate fest mit beiden Händen umklammernd, bewegte er sich Schritt für Schritt über den gepflasterten Weg auf das Fluchtauto zu. Was sollten wir davon halten? Und wo blieb S.? » Vorsicht! Es könnte sich um eine Finte handeln. Zieht ihn rüber und bringt ihn in Sicherheit«, rief ich meinen Leuten über Funk zu. In diesem Moment hörten wir aus dem Apartment einen Schuss. » Stopp! Vorerst geht niemand rein. Erst befragen wir Hans«, rief unser Kommandoführer dazwischen.
Ein paar der Leute vom Notzugriff hatten sich inzwischen Hans geschnappt, ihn mit ihren Körpern geschützt und ihn, so schnell es mit einer Handgranate möglich war, durch einen Nebeneingang ins Hotel gebracht. Dort warteten wir bereits auf ihn. Er wirkte zwar mitgenommen, was niemanden wunderte, war insgesamt jedoch trotz der durchlittenen Strapazen und Ängste in einer erstaunlich guten Verfassung.
In einer besseren offenbar als der Geiselnehmer. Der nämlich, erklärte Hans uns, habe sich in dem Moment völlig aufgegeben, als er keine Chance mehr zur Flucht sah. Und bevor er sich von unseren Präzisionsschützen erschießen ließ, richtete er sich lieber selbst. Er würde den Druck nicht mehr aushalten, hatte er Hans erklärt und ihn mit der gesicherten Handgranate nach draußen geschickt, um sich dann mit der Dienstwaffe unseres Kollegen zu erschießen.
Im Apartment bot sich ein grausiges Bild. Reinhart S. lag auf dem Rücken im Bett. An den Wänden klebten Blut und Gehirnmasse, verursacht durch einen Schuss in den Mund. Die Geiselnahme war beendet, unsere Aufgabe getan. Nur die Frage, ob S. gewarnt worden war und von wem, beschäftigte uns noch.
Erst die Vernehmung seiner Lebensgefährtin brachte Licht ins Dunkel. Wie jeden Tag, erzählte sie, habe Reinhart S. auch an jenem Abend seinen Bruder telefonisch zu erreichen versucht und seine Schlüsse gezogen, als niemand sich meldete. Von diesem Moment an schien er fest davon überzeugt, dass man ihm ebenfalls auf der Spur war. » Du wirst sehen, die kommen am Morgen«, sagte er zu Sybille A. und bereitete alles entsprechend vor. Deshalb auch schickte er die Frau in aller Herrgottsfrühe ins Bad, während er selbst mit einer Handgranate unter der Decke im Bett auf die Polizei wartete. Es handelte sich übrigens um eine sogenannte jugoslawische Volkshandgranate mit einer Sprengladung von etwa 40 Gramm PETN , die nach Entfernen des Sicherungsstifts und Loslassen des Haltebügels innerhalb von vier Sekunden explodiert wäre. Viel Zeit, um zur Seite zu springen, hätte der Hans nicht gehabt.
Monate später stellten wir den Einsatz für einen Lehrfilm am Ort des Geschehens nach und bauten dabei den Hechtsprung ein. Wenigstens theoretisch hätte es geklappt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Nur weiß man ja, dass in der Realität nicht immer alles nach Plan und Lehrbuch abläuft. Der Hans übernahm übrigens seinen eigenen Part in diesem Streifen, und ich dachte schon, das habe ihm bei der Bewältigung seiner Erlebnisse geholfen. Ein paar Monate später wechselte er trotzdem zur Kriminalpolizei.
Ich traf übrigens bei dieser Gelegenheit einen Freund aus Kindertagen wieder, denn der Hoteldirektor stellte mir seinen Chef vor. War das eine Überraschung und ein Hallo, denn wir waren gemeinsam zur Schule gegangen. Und trotz der vielen, vielen Jahre, die zwischenzeitlich ins Land gegangen waren, erkannten wir uns auf Anhieb wieder.
Die Meldung passte so gar nicht zu den gängigen Vorstellungen und Klischees von der heilen Bergwelt. Auf der Alm da gibt’s koa Sünd, heißt es schließlich in Bayern. Und jetzt war das Wirtsehepaar einer Alpenvereinshütte tot aufgefunden worden. Ermordet und in einer großen Blutlache liegend.
Für uns noch aus einem anderen Grund
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