Zugriff
seine Freundin nach einem Streit als Geisel genommen habe. Und er werde auf jeden schießen, der in seine Nähe komme. Anrufe wie diesen gab es immer wieder, und zumeist stellten sie sich als harmlos heraus. Oft handelte es sich um Betrunkene, die kurzfristig mal ausrasteten. Trotzdem musste man der Sache nachgehen, und so schickte die Einsatzzentrale auch in diesem Fall zwei Doppelstreifen los.
Erwin K. lebte mit seiner Freundin in Thalkirchen in einer Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines vierstöckigen Gebäudes. Die Haustür befand sich auf der Rückseite und war durch einen seitlichen Torbogen zu erreichen. Zwar hatten die Streifenwagen Martinshorn und Blaulicht vorschriftsmäßig ausgeschaltet, bevor sie sich der ruhigen Anliegerstraße näherten, doch der Geiselnehmer erwartete sie bereits, feuerte vom Balkon seiner Wohnung aus einer Pumpgun. 20 Schüsse zählten die Polizisten später. Zum Glück wurde keiner von ihnen getroffen, und die meisten Projektile schlugen in die Wand des Tordurchgangs ein.
Nachdem damit zweifelsfrei klar war, dass man es nicht bloß mit einem randalierenden Betrunkenen zu tun hatte, wurde das SEK alarmiert. Schon wieder, denn die Männer, die gerade erst von dem Banküberfall heimgekommen waren, hatten vielleicht eine Stunde geschlafen. Entsprechend lange dauerte es, sie aus den Federn zu kriegen. Manche befanden sich im Tiefschlaf und mussten mehrmals angepiepst und zugleich angerufen werden. Einigermaßen wach wurden sie erst, als ihnen die Ungewöhnlichkeit der Situation richtig bewusst wurde. Ein Doppelschlag war selbst für das SEK Südbayern, das schon so einiges erlebt hatte, ein Novum. Und das wollte etwas heißen.
Bereits 45 Minuten nach dem Alarm näherte sich der Notzugriffstrupp, sechs schwer bewaffnete Männer in voller Kampfausrüstung, dem im Hof gelegenen Hauseingang. Es war ziemlich dunkel. Nur der Schnee, der als dünne Schicht den Boden bedeckte, reflektierte das spärliche Licht einer Laterne. Geschützt hinter Panzerschilden schlichen die Männer leise ins Treppenhaus. Kein Laut war zu vernehmen, denn seit Abgabe der Schüsse herrschte Totenstille.
Anders an der Straße, denn dort, außer Sicht- und Hörweite zur Tatwohnung, ging es hoch her. Hier versammelten sich alle möglichen Polizeikräfte sowie Mitglieder der Verhandlungsgruppe und der Pressestelle. Auch ein Rettungsfahrzeug mit Notarzt war bereits eingetroffen. Jetzt musste schnellstmöglich der Einsatz koordiniert werden. Als Erstes brauchte man Pläne und Informationen über das ausgesprochen verwinkelte und unübersichtliche Gebäude. Meine Kollegen klingelten den Hausmeister aus dem Bett, der sich schnell einen Bademantel überwarf und sie begleitete. Von ihm erfuhren sie alles Notwendige über Zugänge, Notausgänge und Zufahrten in die Tiefgarage. Währenddessen arbeiteten sich die Notzugriffskräfte im Treppenhaus nach oben vor. Andere Einsatzkräfte, die inzwischen ebenfalls eingetroffen waren, lösten die regulären Polizisten ab und übernahmen die Sicherung des Gebäudes.
Kurz darauf Geräusche von oben, vermutlich aus der Wohnung von Erwin K. Vor allem der Zugriffstrupp hoffte, dass der Mann nicht herauskam. Dann ließe sich ein Schusswechsel kaum vermeiden, und das wäre es dann gewesen mit einer friedlichen Lösung. In solchen Situationen klopfte selbst den härtesten Burschen das Herz bis zum Hals. Davor war niemand gefeit, trotz aller Erfahrung und trotz allen Trainings nicht. » Lampen aus«, flüsterte der Teamführer, während alle mit angehaltenem Atem nach oben horchten, wo sich eine Tür öffnete.
Das Licht wurde angeschaltet, eine Person erschien auf dem Treppenabsatz. Entwarnung und erleichtertes Aufatmen, denn es handelte sich um eine zierliche junge Frau, die verstört und sichtlich verängstigt auf die martialisch aussehenden Männer mit den gezogenen Waffen blickte. Kreidebleich stotterte sie Unverständliches, fasste sich aber schnell und erklärte den Einsatzkräften, ihr Freund sei mit drei Waffen in die Tiefgarage geflüchtet. Aha, die Lebensgefährtin und zeitweilige Geisel. Evelyn R. fügte noch hastig hinzu, der Mann werde auf alles schießen, was sich in seiner Nähe bewege. Ausnahmslos.
Nachdem die Frau nicht mehr in Gefahr war, beschloss die Führungsriege eine neue Strategie. Sämtliche Männer zur Tiefgarage, lautete die Parole, allen voran der Notzugriffstrupp. Nur langsam und unter strengster Beachtung der eigenen Sicherheit ging es vorwärts. Immer
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