Zugzwang
Schändler selbst wurde die komplette Riege ausgetauscht. Üblicherweise«, sie blätterte in ihrem Ordner, »machen sie das, wenn überhaupt, in einem Rhythmus von vier Jahren. Schändler ist in den letzten Jahren sehr expansiv gewesen. Bei Übernahmen bekommen die leitenden Angestellten der Firma in der Regel zur Belohnung einen Aufsichtsratsposten, mindestens. Nicht so bei Schändler. Jedenfalls in den letzten zehn Monaten!«
Marlies machte eine kurze Pause und sah in die Gesichter ihrer Zuhörerschaft.
»Da kamen zwei Leute in den Aufsichtsrat, die bis dato mit Werbung eigentlich nicht so viel am Hut hatten. Marga Karman, vormals Mitarbeiterin bei einem großen Meinungsforschungsinstitut sowie Ansgar Skopje, seines Zeichens Leiter eines privaten Forschungsinstitutes. Sie arbeiten auf dem Gebiet der Bewusstseinsforschung und der neuronalen Netzwerktechnik. Skopje ist im Übrigen mittlerweile Teilhaber des Schändler-Imperiums und leitet die Firma nach dessen Tod protokollarisch.«
Marlies legte ihre Akte wieder zurück auf den Tisch und nahm daneben Platz. Sie strich sich ihre dunkelblonden Haare, die sie heute ausnahmsweise einmal offen trug, aus dem Gesicht.
Für einige Sekunden drang nur der Verkehrslärm in den Raum ein. Mit einem Seufzer sah Kalle zu den offenen Fenstern herüber, bevor er die gedankliche Bewältigung des letzten Vortrages unterbrach.
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum wir hier darüber grübeln, was mit dieser Firma Schändler los ist oder auch nicht. Ich denke, der Fall ist klar, oder täusche ich mich da?«
»Denke ich auch«, meldete Daniel sich zu Wort, »aber Joshua zweifelt daran. Und solange noch die geringsten Zweifel bestehen, müssen wir weiter in alle Richtungen ermitteln.«
Joshua war erstaunt über die Rückendeckung seines Kollegen. Er erläuterte den anderen seine Bedenken. Viktor und Marlies nickten. Daniel und Kalle zeigten keine Reaktion. Joshua beobachtete sie genau. Sie beschlossen, der Firma Schändler weiter auf den Zahn zu fühlen.
»Absoluten Vorrang«, so Joshua, »hat natürlich Till Groding. Wir müssen ihn finden. Allerdings …«, Joshua zögerte, »ich wüsste nicht wo.«
Keiner sagte ein Wort. Für einen Moment dachte Joshua, sie wollten ihn diese Suppe alleine auslöffeln lassen.
»Außerdem müssen wir uns noch um diesen Jörg Maiboom kümmern«, Kalle sah ihn an und wollte gerade etwas sagen, »ich weiß, er hat ein Alibi. Aber irgendwie muss sein Firmenwagen ja zu der Villa der Schändlers gekommen sein. Habt ihr seine Nachbarn schon befragt oder das Auto untersucht?«
Kalle schlug sich vor die Stirn.
»Okay, Chef. Bin schon unterwegs. Viktor, kommst du mit?«
Der Angesprochene verzog kaum merklich das Gesicht. Mit lautem Röcheln sog er den Tabak von seinem Handrücken in die mächtige Nase und stand auf. Im Türrahmen drehte Kalle sich noch einmal um.
»Noch was, ich habe mit Achmed gesprochen, an eine Makarov zu kommen, ist kein Problem. Zumindest, wenn man die richtigen Kontakte hat.«
Achmed Sharazan war ein türkischer Geschäftsmann, der einen Import- und Exporthandel mit Ladenlokal in der Nähe des Bahnhofes betrieb. Kalle und er tauschten regelmäßig Waren aus, die einer von beiden nicht loswurde. Was Kalle bei E-Bay nicht verkaufte, musste nur lange genug bei Achmed im Schaufenster liegen und umgekehrt. Viktor war der Ansicht, sie würden sich dabei gegenseitig über den Tisch ziehen.
Joshua winkte genervt ab.
»Danke, Kalle. Das habe ich mir schon gedacht. Und?«
»Er kennt weder Till Groding noch Ramon Schändler. Außerdem hat er noch niemals mit Waffen gehandelt.«
Das glaubst auch nur du, dachte Joshua und nickte dankend.
Daniel wollte die Düsseldorfer Kollegen um Mithilfe bitten und ging ins Büro. Marlies blieb noch sitzen.
»Du machst dir Vorwürfe, richtig?«
Joshua sah sie verwirrt an. In Gedanken war er noch bei dem Fall.
»Ich meine, weil ihr den Groding nicht sofort mitgenommen habt.«
»Dann wäre ich aus dem Schneider, falls du das meinst. Aber er war es nicht. Zumindest nicht alleine.«
»Ich hoffe, du hast Recht. Wie geht es mit deiner Familie?«
Joshua schluckte.
»Daniel hat es mir heute Morgen erzählt. Er sagte, es würde dich sehr mitnehmen und er hätte Angst, dass du Fehler machst. Aber bitte …«, sie legte sich den Zeigefinger an die Lippen.
»So, hat er«, Joshua brauste auf, »und was denkst du?«
Sie sah ihm zunächst stumm in die Augen.
»Ich denke, du weißt, was du tust.
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