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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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durchaus. Man kannte sich. Man grüßte sich. Man lebte eher nebeneinander als miteinander, aber man kam eigentlich ganz gut miteinander aus. Die Kinder spielten zusammen, vor allem auf dem Lagerplatz des Holzhändlers Fried. »Jud, Jud, spuck in’ Hut / sag der Mutter, das ist gut«, sangen die Christenkinder. Oder auch: »Aus an süßen Sauerkraut / ham die Juden den Tempel baut«. Grausam? Nicht wirklich, meint der Selchermeister, der später Bürgermeister wurde. Es war nicht bös gemeint. Man war nachher schnell wieder gut.
    Auch außerhalb des Judenviertels bekam man mit, was sich in der Judengemeinde abspielte, und nahm Anteil daran. So etwa an der Aufregung, die herrschte, als Heini Deutsch eines Tages in die Mikwe pinkelte. Ein wirklich schlimmer Frevel, vergleichbar der Tat eines Ministranten, der in den Weihwasserkessel spuckt. Der Rabbi wurde gerufen. Er veranstaltete unter den jüdischen Buben eine hochnotpeinliche Untersuchung. Warum hatte Heini so etwas Verwerfliches getan? Dessen kleinlaute Antwort: weil ich so dringend müssen hab. Nächste Frage: ob der verhängnisvolle Strahl »gerade« gekommen war oder »im Bogen«. Einhellige Antwort: im Bogen. Damit war Heini überführt. Er hatte nicht »dringend müssen«. Diese scharfsinnige Schlussfolgerung wurde bewundert und erregte Staunen und Anerkennung bei Jud und Christ. Der Rabbi, das war klar, war ein weiser Mann.
    Manche alte Frauenkirchner kennen sich auch ganz gut aus mit jüdischen Bräuchen. Die Bauerntochter Resi Kiss war in den Dreißigerjahren im Dienst beim Lebensmittelhändler Fried Isidor an der Hauptstraße. Am Freitag wurde im Hause Fried Scholet gemacht, das traditionelle Sabbat-Essen. Frau Kiss weiß heute noch genau, wie das geht: Bohnen ins Wasser, einen gestopften Gänsehals hinein, gut würzen, Deckel drauf und zubinden. Dann wurde die Schüssel zum »Judenbäck« gebracht, der sie mit den anderen Scholet-Schüsseln über Nacht in den warmen Backofen stellte. Feuer machen ist den Juden ja am Feiertag verboten. Anderntags war die Speise gar.
    Zweimal in der Woche war in jenen Jahren in Frauenkirchen Markttag. Am Mittwoch war »Kleiner Markt«, am Freitag »Großer Markt«. Die Alten erinnern sich noch gut an das Treiben von damals. Aus allen Dörfern im Seewinkel, aus Wallern, aus Andau, aus Pamhagen, kamen die Bauern mit ihren Pferdewagen und ihren Produkten. Kukuruz, Rüben, Eier, Geflügel. Die ganze Franziskanerstraße entlang standen sie, »alles wegen unseren Judengeschäften«. Frauenkirchen sei damals ein Einkaufszentrum gewesen. Heute, da die jüdischen Läden weg sind, gehe alles nach Neusiedl.
    Fanny Haidecker, die Wirtin vom Bahnhofsgasthof, damals ein halbwüchsiges Mädchen, ging auch zum Markt, unter jedem Arm zwei lebende Gänse. Frau Levine vom Hauptstraßen-Lebensmittelgeschäft Levine kaufte nur bei ihr. Du bist die Teuerste, sagte sie oft zu Fanny, aber deine Gänse sind auch die schönsten. Fannys Gänse hatten lange Schnäbel, gut geeignet zum Stopfen.
    Die Rosenfelds kauften und verkauften vor allem Weizen. Neun jüdische Fruchthändler gab es damals in Frauenkirchen. Man kaufte bei den Bauern die Ernte »am Halm«, wenn diese schlecht ausfiel, lag das Risiko beim Händler. Und wer mit dem Geld nicht auskam, borgte »beim Juden« auf die nächste Ernte. Es wurden ordentliche Preise gezahlt. Ein vorteilhaftes Arrangement für beide Teile. Aber mancher, der Schulden hatte, schimpfte und fand in »dem Juden« die Erklärung für alle Übel dieser Welt. Manche Händler gingen, wie die Frauenkirchner erzählen, auch »ins Grundbuch«, zur Empörung der lokalen Antisemiten. Dann wurde aus Bauerngrund »Judengrund«.
    Der Getreidehandel spielte sich in der Fruchtbörse ab, dem prächtigen Gebäude in der Taborstraße in Wien. Es steht heute noch, beherbergt aber keine Börse mehr, sondern unter anderem das Odeon-Theater. »Eine Tratschzentrale«, sagt Paul Rosenfeld. Man traf einander, tauschte Informationen aus, redete über Geschäftliches und über Privates. Jüdische Kaufleute waren hier praktisch unter sich.
    Paul war eines von drei Kindern einer wohlbestallten Familie. Er ging in Frauenkirchen in die Volksschule, dann ins Realgymnasium in Eisenstadt, der bedeutendsten unter den sieben jüdischen Gemeinden. In der Unterstufe wohnte er im Internat als einer von nur zwei Juden in der Klasse. Der Rest war »halb christlichsozial, halb deutschnational«. In der Oberstufe nahm ihn ein freundlicher jüdischer

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