Zuhause ist ueberall
Bundeskanzler Schuschniggs Abschiedsrede im Radio, war ein Freitag. Noch am Vortag, dem Donnerstag, hatte Vater Rosenfeld Weizen gekauft. Die Familie saß am Abend beim Sabbat-Essen, als draußen auf der Hauptstraße ein Nazi-Demonstrationszug vorbeimarschierte. An der Spitze, eine Hakenkreuzfahne in der Hand, ein Lagerarbeiter aus der Firma. Man war betroffen. Der Josef – ein Nazi? Nie hätte man das gedacht. Kurz darauf gingen im ganzen Ort die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zu Bruch. Der Untergang der Judengemeinde von Frauenkirchen nahm seinen Anfang.
Auch die Wirtin Fanny Haidecker erinnert sich an diesen Abend und diese Nacht. Die Leute waren außer Rand und Band, besonders diejenigen, die Schulden bei den Juden hatten. Eine Nachbarin, die im Lebensmittelgeschäft Rechnitzer immer anschreiben ließ, schleuderte einen Pflasterstein gegen die Auslagenscheibe, die klirrend zersplitterte. Frau Haidecker sieht das Bild noch heute vor sich. Die Glasscherben überall, die Frau, die immer wieder laut kreischte: »So zahl ich dir die Rechnung, gstunkener Jud.«
Die folgenden Tage brachten den Einmarsch der deutschen Truppen, Hitlers Auftritt auf dem Wiener Heldenplatz, den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich. In Frauenkirchen brachten sie vor allem einen unkontrollierten Raubzug durch die jüdischen Läden und Wohnungen. Im Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstandes befindet sich die eidesstattliche Erklärung eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Frauenkirchner Kultusgemeinde, eines Kaufmanns, die nur mit dem Anfangsbuchstaben »M« gezeichnet ist. »Leute kamen in die Geschäfte und unter dem Deckmantel des Borgens nahmen sie mit: Radioapparate, Schreibmaschinen, Autos, Motorräder etc.«, berichtet Herr M. »Andere nahmen Decken, Strohsäcke, Bettlaken etc., angeblich für das neugegründete KZ. Aber das wenigste wurde abgeliefert. Mindestens neunzig Prozent davon wurden gestohlen.«
Das »neugegründete KZ« war ein Anhaltelager, das in einem der aufgelassenen Esterházyschen Meierhöfe eingerichtet wurde. In diesen Meierhöfen hatten früher, wie in Ungarn üblich, die Landarbeiter der großen Güter gewohnt. Dorthin brachte man die zehn wohlhabendsten Bürger des Ortes samt ihren Familien. Aber vorher hatte man ihnen noch alles abgepresst, was sie besaßen.
Herr M. erzählt, wie Gestapoleute in Zivil in seinem Geschäft erschienen, die Kassa öffnen ließen und alles Geld, Schmuck und Wertsachen mitnahmen. Das Gleiche wiederholte sich in seiner Wohnung. Auch die Uhr musste er abgeben, die Brieftasche bis auf den letzten Groschen leeren. Die Bitte, wenigstens fünf Schilling behalten zu dürfen, um am nächsten Tag für die fünf kleinen Kinder etwas zu essen zu kaufen, wurde mit einem höhnischen Lachen abgeschlagen. »Du musst mir deine sämtlichen Geldwerte angeben. Wenn du nur das Geringste verheimlichst, wirst du auf der Stelle erschossen.« Allen Verhafteten wurde ein Schriftstück zur Unterschrift vorgelegt, in dem stand: »Ich verzichte auf mein Vermögen zugunsten des Reiches und verlasse das Land innerhalb von 48 Stunden.« Wer zögerte, wurde grausam geschlagen.
Herr M. fragte, wie er ohne Ausreisebewilligung und ohne Geld mit seiner großen Familie wegreisen sollte. Das reichte. »Wahllos sausten seine Hiebe auf mich herab, in die Augen, auf die Nase. Weil er schon vom Schlagen erschöpft ist, ruft er einen Kollegen zu Hilfe. Blutüberströmt falle ich zu Boden. Beide stellen sich auf Leib und Brust und beginnen zu treten und zu trampeln. Einer hat sogar eisenbeschlagene Bergsteigerschuhe an.«
Auch die armen Juden aus der Judengasse kommen an die Reihe. In Fanny Haideckers bäuerlichem Elternhaus taucht die kleine Tochter einer Familie auf, die bei Fannys Mutter sonst immer die Milch holte. Sie weint. Jeden Abend holten sie den Vater, erzählt sie, und schlügen ihn. Er sollte sagen, wo er das Gold aufbewahrt habe. Aber sie hätten doch nichts. Das einzig halbwegs Wertvolle im Haus, die Sabbatleuchter, hatten die Schläger ja schon bei ihrem ersten Besuch mitgenommen.
Präsident der Frauenkirchner Kultusgemeinde war zu dieser Zeit Dr. Ernst Weiss, ein Arzt. Alle, die man fragt, sprechen in den höchsten Tönen von ihm. »Ein feiner Mann und ein guter Arzt«, sagt der Fleischhauermeister Kiss. »Wenn man ihn gebraucht hat, ist er auch in der Nacht gekommen.« Und Fanny Haidecker, die Wirtin: »Die Armen hat er umsonst behandelt.« Dr. Weiss ist ein
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