Zuhause ist ueberall
also Aktien, neuen großen Eigentümern. Und von denen haben viele die Betriebe nach Kräften ausgeplündert und ausgehöhlt – »tunneliert« sagen die Leute – und den wertlosen Rest wieder abgestoßen.
Ein anderes großes Thema jener Nach-Wendejahre ist die Frage: Was tun mit den Mächtigen der Kommunistenzeit und den verhassten Mitarbeitern des STB, der tschechoslowakischen Stasi? Soll man ihre Schuld hochnotpeinlich untersuchen? Soll man die Schuldigen vor Gericht stellen? Sie bestrafen? Oder einen Schlussstrich ziehen? Die meisten ehemaligen Dissidenten, voran der neue Staatspräsident Václav Havel, plädieren für einen Schlussstrich. Keine neue Gesinnungspolizei. Keine »Entkommunistifizierung«. Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Nach vorne schauen, gemeinsam versuchen, es jetzt besser zu machen, und die böse Vergangenheit hinter sich lassen. Diejenigen, die am meisten durchgemacht haben, sind auch diejenigen, die am wenigsten auf Rache sinnen.
Aber irgendwann tauchen die geheimen Stasi-Akten in der Öffentlichkeit auf. Ein junger Journalist aus Brünn hat sie zugespielt bekommen und sie in einer eigenen Publikation veröffentlicht. Das Extrablatt ist sofort ausverkauft. Es enthält eine schier endlose Liste von Namen, viele davon diejenigen von durchaus bekannten Persönlichkeiten. Sie alle waren Stasi-Spitzel, sogenannte »Fiesel«, gewesen oder sollen solche gewesen sein. Ein Riesenskandal! Meine Freundin Jiřina Šiklová, die selbst lange im Gefängnis war, sagt, sie hätte einen ganzen Tag damit verbracht, Menschen, deren Namen auf der Fiesel-Liste verzeichnet waren, anzurufen und zu trösten. Einer hatte gerade erwogen, sich umzubringen.
Freilich, die Liste war lanciert. Niemand weiß, wer sich wirklich schuldig gemacht hat, wer zur Spitzeltätigkeit gepresst wurde und wer unschuldig auf die Liste gelangt war. Das Gift der Stasi, jahrzehntelang in alle Teile der Gesellschaft eingedrungen, wirkt noch nach, lange nachdem die Giftschlange selbst unschädlich gemacht worden ist. Auch von mir gibt es einen Akt der Geheimpolizei. Auf einer tschechisch-österreichischen Historikerkonferenz kommt er zur Sprache, und ein Journalistenkollege schickt mir einen Auszug. Ein so umständliches wie skurriles Dokument: Fotos von mir, auf der Straße, im Gespräch mit allerhand Leuten. Fieselberichte, die minutiös festhalten, wo ich wann war. Und das etwas kleinlaute Eingeständnis, dass die Beobachter mich, als ich in ein Taxi stieg, aus den Augen verloren haben. Dafür ist genau vermerkt, was diese, sieben an der Zahl, bei der Arbeit angehabt haben. »Mišek: schwarzes Sakko, blaue Hose, schwarze Schuhe, Krahulik: schwarzes Sakko, graue Hose, braune Schuhe, Jansová: blauer Mantel, schwarze Handtasche, schwarze Schuhe« usw.
Der STB war, wie die Stasi in der DDR, stets bemüht, einheimische Mitarbeiter für Spitzeltätigkeiten anzuwerben. Auch Věra wurde als junge Medizinstudentin von der Organisation angesprochen. Sie sollte mit einer Gruppe von Kollegen nach Deutschland fahren dürfen und danach über deren Verhalten berichten. Věra sagte nein. Prompt wurde ihr die Reise verwehrt. In den folgenden Jahren kam sie nie mehr ins westliche Ausland, bis zur kurzen Atempause des Prager Frühlings, und danach auch nicht mehr.
Josef Kinsky, einst Großgrundbesitzer, dann strafweise zur Zwangsarbeit in ein Kohlebergwerk geschickt, fand einen so einfachen wie originellen Weg, sich der geforderten Spitzeltätigkeit zu entziehen. Er sei leider Quartalsäufer, erklärte er den Abgesandten des STB. Hin und wieder müsse er sich einfach volllaufen lassen, und dann wisse er nicht mehr, was er rede. Er wurde nie mehr belästigt.
Fast jeder Tscheche hat seine STB-Erfahrungen. Einer davon ist Hermann Schmid, Pfarrer in Čečelice, einem Dorf unweit von Prag. Eine Wiener Freundin von mir ist seine Nichte, und sie hatte mich, als ich nach Prag zog, gebeten, ihren Onkel gelegentlich zu besuchen. Er sitze da allein in seinem Kaff und freue sich über Gäste. Pfarrer Schmid ist Deutschböhme. Unter den Nazis hatte er es schwer, weil er sich vorbildlich um seine tschechischen Pfarrkinder kümmerte. Unter den Kommunisten ebenfalls, weil er in der Zeit der Vertreibung den Deutschen beistand. Inzwischen hätte er längst selbst nach Deutschland oder Österreich ziehen und dort kirchliche Karriere machen können – die Behörden wären froh gewesen, ihn los zu sein, konnten ihn aber als ausgewiesenen Antifaschisten nicht
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