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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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gesprochen worden. Aber Kinder spüren natürlich trotzdem, was in der Luft liegt. Man kriegt mit, dass Juden absolut out sind. Man weiß nichts und weiß doch etwas. Man ist beklommen und fragt wohlweislich nicht, was einen beklommen macht.
    Ich fahre mit der Elektrischen. Der Zug ist voll. Ich sitze am Fenster. Eine alte Frau steigt ein, den Judenstern auf dem Mantelaufschlag. Wir sind von klein auf dazu angehalten worden, älteren Leuten unseren Platz zu überlassen. Ich fühle akutes Unbehagen. Was jetzt tun? Aufstehen, der Frau meinen Sitz anbieten? Darf sie sich überhaupt hierhersetzen, mitten unter die anderen Leute? Will sie das? Ich wähle einen Kompromiss. Stehe auf, tue so, als ob ich aussteigen wollte. Drücke mich auf die hintere Plattform. Ich fühle mich feige und unglücklich. Und bin erleichtert, als die Frau bei der nächsten Station aussteigt.
    Vor dem Einmarsch der Deutschen haben Juden in Prag eine große Rolle gespielt, sowohl in der tschechischen als auch in der deutschen Gesellschaft. Das deutsche Theater lebte mehr oder minder vom deutsch-jüdischen Publikum, ebenso die deutschsprachige Presse. Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod waren nur drei der berühmtesten unter vielen deutschsprachigen Schriftstellern. Es gab viele jüdische Industriellenfamilien und viele elegante jüdische Geschäfte. Das größte und schönste Spielzeuggeschäft in der Stadt hieß Brandeis, und schon ein Blick in seine Auslage war für uns Kinder ein erlesener Genuss. Aber das sahen wir alles nur von außen. Die Eltern hatten ein paar jüdische Bekannte, die sie auf Gesellschaften trafen, aber keine engeren jüdischen Freunde – was freilich auch daran lag, dass sie überhaupt keine engen bürgerlichen Freunde hatten. Wie waren wir blöd, sagte meine Mutter später, warum haben wir Kafka nicht gekannt. Eine ziemlich naive Aussage, wäre eine solche Begegnung unter den gegebenen Umständen doch mehr als unwahrscheinlich gewesen.
    Alle drei Brüder meines Vaters hatten jüdische Frauen geheiratet. Tante Idl war Schauspielerin, Tante Anita war Künstlerin, Tante Lilly war Fliegerin. Papi mochte sie alle nicht besonders und ließ den Kontakt zu seinen Brüdern nach deren Eheschließungen verkümmern. Die Schwägerinnen waren ihm zu exzentrisch. Oder zu jüdisch?
    Ein heikler Punkt. Als unter den zahlreichen Freundinnen meines Bruders Hans Heinrich einmal eine aktuell war, die aus einer berühmten jüdischen Familie stammte, ließ unser Vater sich vernehmen, man müsse ja nicht unbedingt in die »Grande Juiverie« einheiraten. Schließlich heiratete ich selber einen Juden (freilich nicht aus der Grande Juiverie). Meine Mutter wusste es und billigte es, aber meinem Vater sagten wir vorsichtshalber nichts davon. Das war ein Thema, über das ich keine Auseinandersetzungen wollte. »Ausdiskutiert« haben wir es nie.
    Eine unbefriedigende Bilanz. Ist das wirklich alles, was ich aus eigener Erfahrung über die Nazizeit weiß? Diese paar Belanglosigkeiten? Habe ich wirklich nichts mitgekriegt von Massenmord und Massenmord-Propaganda, vom Zusammenbruch aller Werte, von Hass und tödlichem Antisemitismus, obwohl all das ja den Hintergrund unseres harmlosen Kinderlebens bildete? Wenn ich ehrlich bin: nein. Kinder akzeptieren alles, was um sie herum geschieht, als normal und meinen, das müsse eben so sein. Wir sangen »Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot« mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie »Wenn alle Brünnlein fließen, so muss man trinken«. Wir liefen in unseren HJ-Uniformen durch die Straßen des besetzten Prag, unbekümmert und ahnungslos. Und zu Hause war die heile Welt, in der vom Treiben draußen nicht viel zu spüren war. Was in jener Zeit wirklich geschah, habe ich erst sehr viel später erfahren, durch Bücher und Begegnungen. Hier millionenfacher Mord – und da Heilkräutersammeln und Volkstanznachmittag. Eine Kindheit unter dem Hakenkreuz.

Im Krieg
    Mehr als die Naziherrschaft ist der Krieg in meiner Kindheit präsent. Mein Vater ist eingerückt, im letzten Jahr auch meine Brüder, der ältere an der Ostfront, der jüngere in Jugoslawien. Und auch in der Verwandtschaft gibt es zahlreiche Soldaten. Etliche fallen. Auf den Straßen sieht man jetzt viele Uniformen. Wir Kinder kennen sie alle: die feldgrauen der Infanterie, die bläulichen der Luftwaffe, die schwarzen der Panzertruppe. Diese Letzteren sind bei weitem die schönsten. Ich bin

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