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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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Ziel ist: die Smíchover Straßenbahnremise. Ein großer Ziegelbau aus der Zeit der Jahrhundertwende. Drinnen eine weitläufige Halle, in die nach und nach die Deutschen aus dem Viertel eingeliefert werden. Auch unser Vater taucht wieder auf. Er schiebt sich durch die Menge und küsst meiner Mutter die Hand. Große Erleichterung. Papi ist unversehrt, nur seine Ausweispapiere und seine Geldbörse hat man ihm abgenommen.
    Bisher ist alles gewaltfrei abgelaufen. Aber je weiter die Zeit vorrückt, desto aufgeheizter wird die Stimmung draußen. Jetzt sieht der Pöbel seine Stunde gekommen. Die Straßen füllen sich mit aufgebrachten Leuten. Menschen, die während der Besatzungszeit brav gekuscht haben, stürzen sich plötzlich auf alles, was deutsch spricht, es wird geprügelt, gejagt, gedemütigt. Auch in unsere Remise werden jetzt übel zugerichtete Leute gebracht, einige sind blutüberströmt, andere können kaum mehr gehen. Ein Arzt ist unter uns, er versorgt die Neuankömmlinge, so gut er kann. Eine Krankenschwester hilft ihm dabei.
    Die Nacht kommt. Wir horchen angespannt, was sich draußen tut. Wir hören Schüsse. Und dann nähert sich eine Volksmenge, offenbar völlig außer Rand und Band. Die Leute trommeln an die Eisentüren der Remise. Schwere Balken werden gebracht und gegen die Tore gerammt, um sie aufzubrechen. Gottseidank sind diese solide gebaut. »Wir zünden die Bude an!«, wird gerufen. In die Gaswerke mit ihnen! Gaswerke? Ein tschechischer Polizist ist bei uns, er soll uns bewachen. Ihm ist das Ganze auch nicht geheuer, aber er zuckt die Achseln. Mein Leben werde ich wegen euch auch nicht riskieren, sagt er. Wir können es ihm nicht verübeln.
    Unser Doktor, der inzwischen eine Art Sprecher der Eingesperrten geworden ist, schlägt vor, dass sich die Männer in der Nähe der Eingänge postieren und die Frauen und Kinder in den hinteren Teil der Halle zurückziehen sollen. Das tun wir auch. Aber die Attacke bleibt aus. Wir kommen davon. Die Randalierer haben nach einiger Zeit genug, sie schreien noch eine Weile und verschwinden dann.
    Inzwischen ist, was wir nicht wissen, klar geworden, dass es die Sowjetarmee sein wird, die Prag befreien soll. Die Amerikaner sind in der Nähe von Pilsen in Westböhmen stehen geblieben, ihren Verbündeten die Hauptstadt überlassend. Hier haben die tschechischen Aufständischen Hilfe von unerwarteter Seite bekommen. Die Truppen des ukrainischen Generals Wlassow, die zuvor an der Seite der Deutschen gegen die Sowjets gekämpft haben, sind jetzt auf die andere Seite übergegangen und haben sich gegen die SS-Verbände gewandt, die in Prag stationiert sind. Deren Befehlszentrale ist oben auf dem Hradschin. Die SS-Leute wissen, dass sie keine Chance mehr haben, und wollen nun nur noch eines: nicht den Russen in die Hände fallen. Sie verhandeln mit den Mitgliedern des tschechischen Nationalausschusses und erreichen, dass die deutschen Verbände freien Abzug zugebilligt bekommen, nach Westen.
    In der Nacht zum 8. Mai erscheinen in unserer Straßenbahnremise ein tschechischer und ein deutscher Offizier und verkünden, auf Deutsch und auf Tschechisch, dass die abziehenden Deutschen nun vor dem Gebäude stehen und sich auf den Weg Richtung Pilsen machen. Wer wolle, könne sich ihnen anschließen. Vorher nach Hause gehen sei aber nicht möglich.
    Was jetzt? Weggehen von zu Hause, das Land verlassen, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Gepäck, mit nichts als mit dem, was wir am Leibe tragen? Oder abwarten und riskieren, dass wir alle miteinander der Rachelust einer entfesselten und lange gedemütigten Volksmasse zum Opfer fallen? Und was für eine Zukunft hätten wir hier zu erwarten? Bisher hatten meine Eltern sich darüber keine großen Sorgen gemacht. Wir waren vor Hitler hier, meinten sie, wir werden auch nach Hitler hier sein. Ein verhängnisvoller Irrtum! Mein Vater fragt den tschechischen Offizier, was mit denen wird, die sich fürs Hierbleiben entscheiden. Die stehen unter dem Schutz des tschechischen Gesetzes, ist die Antwort. Die Eltern sehen sich kurz an. Sie sind sich einig. Wir gehen!
    Eine richtige Entscheidung, wie sich später zeigt. Denn am folgenden Tag, dem 9. Mai, rückt die Sowjetarmee in Prag ein, und jetzt geht die Hetzjagd auf die Deutschen erst recht los. In der Vorstadt stürmt die aufgebrachte Menge ein Lazarett und wirft die verwundeten deutschen Soldaten samt Gipsverbänden in die Moldau. In der Innenstadt erwischt sie ein paar Uniformierte, hängt sie an

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