Zuhause ist ueberall
bricht in Prag der Aufstand los. Die alliierten Armeen rücken näher, und die tschechischen Nazigegner möchten zeigen, dass sich vor dem Einmarsch der Sieger die Stadt aus eigener Kraft befreit hat. Es beginnt damit, dass der Nachrichtensprecher des Prager Rundfunks am frühen Morgen die Sendung mit den Worten beginnt: je sechs hodin. Halb tschechisch, halb deutsch. Und von da an tschechisch weiter spricht. Im Rundfunkgebäude sind deutsche Soldaten stationiert. Der Nachrichtensprecher ruft alle Tschechen auf: Kommt zum Rundfunk. Helft uns. Viele kommen, es wird geschossen, es gibt Tote.
Wir sind an diesem Tag, bis auf Hans Heinrich, alle zusammen in der Bud’ánka. Mein Vater hat großes Glück gehabt: Vor kurzem hat man ihn zum Volkssturm eingezogen, jenem letzten Aufgebot von älteren Männern, die noch fünf vor zwölf die Niederlage des deutschen Reiches verhindern sollen. Er bekommt, ausgerechnet, eine braune SA-Uniform angezogen und wird einer Reiterstaffel zugeteilt, die, friedlich und völlig sinnlos, kreuz und quer durch den Prager Baumgarten patrouillieren muss. Gottseidank ist die Übung am 5. Mai zu Ende, und mein Vater darf nach Hause gehen und sich Zivil anziehen. Keine Minute zu früh: Hätte der Einsatz länger gedauert, wäre er, in der verhassten Uniform, mit einiger Sicherheit totgeschlagen worden. Denn inzwischen werden in Prag Barrikaden aufgestellt, deutsche Aufschriften heruntergerissen und tschechische Fahnen gehisst, genau wie einst 1919. In der Innenstadt wird gekämpft.
Wir müssen nicht in die Schule. Nicht nur mein Vater ist zu Hause, sondern seit kurzem auch mein Bruder Jakob, inzwischen 16 Jahre alt. Seine Flakbatterie in Jugoslawien ist zurückgenommen worden, die Luftwaffenhelfer wurden nach Hause geschickt. Sie sollen da auf ihre Einberufung zum Militär warten. Auch wir warten. Worauf? Auf das Ende des Krieges. Unser Fräulein ist inzwischen wieder ein bisschen tschechischer geworden, es macht aus einem Leintuch eine weiße Fahne und hängt diese beim Fenster hinaus. Überflüssiger Unsinn, sagt Papi, und das Fräulein muss die Fahne wieder einholen.
Am andern Morgen sehen wir plötzlich ein Hakenkreuz, mit Kreide an unsere grüne Gartentür gemalt. Heißt das: Hier wohnen Deutsche, schlagt sie tot? Sieht jedenfalls unheimlich aus. In der Nachbarschaft, sagen die Hausmädchen, meinen manche, mein Bruder Hans Heinrich sei bei der SS. Sie haben ihn in seiner schwarzen Panzeruniform gesehen, die kann man leicht mit der SS-Montur verwechseln.
Ein paar Stunden später erscheint eine Delegation des tschechischen Nationalausschusses, der sich inzwischen, ebenfalls nach historischem Vorbild, in der Stadt gebildet hat, angeführt von einem Polizisten. Die Leute sind kühl, aber korrekt. Sie suchen in unserem Haus nach Waffen, und mein Vater händigt ihnen seine Pistole aus. Es gibt einen heiklen Moment, als sie in Jakobs Zimmer eine Luftdruckpistole finden. Aber einer kennt sich mit Schießgeräten aus und winkt ab: harmlos. Nachher geht mein Vater hinunter aufs Polizeikommissariat. Dort kennt man uns seit langem als alteingesessene Bürger. Wir sind ganz gut mit den Beamten dort. Papi denkt sich, er könnte vielleicht ein Papier bekommen, das er künftigen ungebetenen Besuchern vorweisen könnte. Er will gleich wieder zurück sein. Aber er kommt nicht wieder.
Dafür bekommen wir Daheimgebliebenen neuerlich Besuch vom Nationalausschuss. Diesmal heißt es: Alle mitkommen. Zu unserer eigenen Sicherheit. Ich, stets eingedenk meiner romantischen Höhlenkinder-Vorstellungen, schnappe mir meinen Rucksack und stopfe eine Wolldecke hinein sowie mein Taschenmesser, einen kostbaren Besitz. Allzeit bereit sein! Später erweist sich, dass dies die einzigen Habseligkeiten sind, die wir gerettet haben. Ich werde für meine Umsicht gelobt. Die anderen haben gar nichts mitgenommen. Sie denken, dass wir nur kurz weg sein werden. Meine Mutter trägt leichte Hausschuhe, mit Absätzen.
Wir gehen die lange Stiege entlang des Parks hinunter nach Smíchov. Ein paar Leute aus der Nachbarschaft säumen unseren Weg. Sie schauen neugierig bis feindselig. Ich muss an das Wort jenes Nazifunktionärs denken: Feindesland. Sind wir vielleicht doch im Feindesland? Eine Frau tritt vor und haut dem siebenjährigen Michi eine Ohrfeige herunter. Dieser erschrickt, aber er bleibt tapfer und weint nicht. Die Umstehenden halten die wütende Frau zurück. Lasst die Kinder in Ruhe.
Unten angekommen, merken wir, was unser
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