Zuhause ist ueberall
die Straßenlaternen, übergießt die noch Lebenden mit Benzin und zündet sie an. Im ganzen Land ist der Teufel los. Zehntausende werden getötet.
An jenem letzten Morgen, den wir in meiner Heimatstadt erleben, ist prachtvolles Wetter. Es ist noch dunkel, als wir aus der Remise ins Freie treten. Ich blicke nach oben und sehe einen wunderschönen Sternenhimmel. Es ist herrlich, nach den vielen Stunden in der stickigen Halle wieder frische Luft zu atmen. Warum müssen wir jetzt eigentlich weg, frage ich meinen Vater. Seine Antwort habe ich nie vergessen. Das ist der Lauf der Geschichte, erklärt er mir. Durch die Geschichte sind wir in dieses Land hereingekommen. Und durch die Geschichte müssen wir jetzt wieder hinaus.
Der Anblick, der sich uns nun bietet, weckt in der Tat geschichtliche Vergleiche, etwa den mit dem Dreißigjährigen Krieg. Ein Heerbann wälzt sich auf der langen, staubigen Pilsner Straße aus der Stadt hinaus, Marschkolonnen von Soldaten, Fahrzeuge, dazwischen und dahinter Fußgänger, Männer, Frauen, Kinder, mit Bündeln und Packen. Wir reihen uns ein. Und während langsam der Tag heraufdämmert, marschieren wir aus meiner geliebten Stadt hinaus, Vater, Mutter, Jakob, Michael und ich. Es wird ein langer Marsch. Mami, Michi und ich dürfen immer wieder auf den Fahrzeugen der Soldaten mitfahren, Papi und Jakob legen den ganzen Weg zu Fuß zurück. Es sind mehr als achtzig Kilometer bis zur Ortschaft Rokyzan. Dort stehen die Amerikaner. Dort wollen wir hin. Ich bin diese Strecke später häufig mit dem Auto gefahren und habe mich jedes Mal an unseren Auszug aus Prag erinnert.
Anders als viele unserer Schicksalsgenossen haben wir kein Gepäck außer meinem kleinen Rucksack. Es hat etwas Befreiendes, so leicht und unbeschwert in den Morgen hineinzuwandern, das bisherige Leben hinter sich zu lassen, nicht zu wissen, was morgen sein wird. Kinder machen sich keine Sorgen, wenn sich die Eltern keine machen. Und das tun meine Eltern nicht, wenigstens lassen sie sich nichts anmerken. Mein Vater und Jakob haben einen amerikanischen Schlager aufgeschnappt, den singen sie jetzt aus voller Kehle: »Hallelujah, I’m a bum, hallelujah, bum again.«
Ich, dreizehn Jahre alt, bin die ersten Stunden auch zu Fuß marschiert, aber irgendwann beginnt die Anspannung der letzten Tage zu wirken, die Erschöpfung und die Tatsache, dass wir mehr als zwei Tage nichts gegessen haben. Ich fange an zu halluzinieren. Meine Mutter erschrickt. Ist das Kind plötzlich übergeschnappt? Ich habe mich ein bisschen in einen hübschen jungen Leutnant verliebt und bilde mir nun ein, ich sei ein Kurier mit einer wichtigen Nachricht. Die muss ich unbedingt dem General überbringen. Das erkläre ich meinem Leutnant, der mich kurzerhand auf ein Fahrzeug packt und mich aus seiner Feldflasche Wasser trinken lässt. Ich habe Fieber, liege auf dem Wagen und träume meine Heldenträume.
Der Weg ist endlos. Der Zug ist kilometerlang, wir sehen weder seinen Anfang noch sein Ende. Einmal hören wir Schüsse. Was ist los? Versprengte Wlassow-Soldaten, so heißt es, haben das Ende des Zuges überfallen. Sie haben zuletzt an der Seite der Tschechen gegen die Deutschen gekämpft und kurz vor dem Einmarsch der Sowjets in Prag Hals über Kopf die Stadt verlassen, Stalins Rache für ihre frühere Zusammenarbeit mit Nazideutschland fürchtend. Zu Recht. Sie werden später alle an die Sowjetunion ausgeliefert. Fast keiner von ihnen hat überlebt.
Wir machen kurze Rast in einer leeren Fabrik. Immer noch nichts zu essen. Der Tiefpunkt kommt, als Mamis Hausschuhe den Geist aufgeben. Diese sitzt jetzt im Straßengraben und weint, zum ersten Mal. Sie ist fix und fertig. Nie hat sie die Nerven verloren, nie Angst gezeigt. Und solange sie ruhig und heiter war, war auch für mich die Welt in Ordnung. Nun wird mir angst und bange. Was sollen wir jetzt machen? Wie soll Mami weitergehen, ohne Schuhe? Aber allmählich nähert sich das Ende des Weges. Rokyzan. Wir waren fast zwei Tage und eine Nacht unterwegs. Da taucht ein baumlanger Soldat in unserem Blickfeld auf, er ist kohlschwarz. Ich habe noch nie einen Schwarzen gesehen. Are you the Americans?, fragt Mami ihn. Sure, sagt der Soldat. Thank God, sagt Mami. Wir hätten den Mann am liebsten umarmt.
Die Amerikaner trennen jetzt Soldaten und Zivilisten, wir bekommen eine Wiese als Lagerplatz zugewiesen. Erleichtert sinken wir auf die bloße Erde. Endlich, endlich schlafen. Anderntags erscheint ein amerikanischer
Weitere Kostenlose Bücher