Zuhause ist ueberall
Gründen Ungarisch sprechen. Und alle wollen helfen, nicht immer sehr professionell. Eine junge Frau aus meinem Bekanntenkreis telefoniert von einer Auffangstation an der burgenländisch-ungarischen Grenze aus mit einer Freundin in Wien. Sie hat die ganze Nacht gearbeitet und ist todmüde. Jetzt wünsche ich mir nur noch ein Bett, sagt sie. Die Freundin versteht »Fett«. Und am nächsten Tag steht ein Kombiwagen mit Schmalzpaketen vor der Tür. Wer kann, bringt Säcke mit warmer Kleidung. Und wer Platz hat, nimmt Flüchtlinge in seiner Wohnung auf.
Die ungarischen Flüchtlinge sind das Tagesgespräch in Wien. Alle bewundern den Freiheitskampf der Ungarn. Alle bemitleiden die Flüchtlinge, die oft bei Nacht und Nebel und ohne Gepäck über die Grenze gekommen sind. Auch in der Wohnung, in der ich jetzt in Untermiete wohne, ist jedes Eckchen belegt. Meine Wirtin hat ungarische Verwandte, die zunächst bei ihr Unterschlupf gefunden haben. Margit ist total erschöpft und möchte sich jetzt vor allem ordentlich ausschlafen. Dénes ist charmant und abenteuerlustig und lacht sich in Blitzesschnelle eine österreichische Freundin an. Und Etelka ist auch in geschenkten Kleidern todschick. Sie ist eine ausgezeichnete Bridgespielerin und bald in allen Wiener Clubs zugange. Sie gewinnt immer und lebt von dem Geld, das sie dabei verdient. Jetzt gehe ich in die Arbeit, sagt sie, wenn sie zum Bridgespielen aufbricht.
Wir alle lieben und bewundern die ungarischen Freiheitskämpfer, und wir hassen die Kommunisten, die deren Revolution so grausam niedergeschlagen haben. Die Kommunistische Partei war schon vorher, während des Kalten Krieges, geächtet. Nach dem Ungarnaufstand ist sie, wenn es noch eines weiteren Anlasses bedurft hat, endgültig das Ärgste vom Ärgsten. Und ausgerechnet die Kommunisten wagen es kaum drei Jahre später, ihre Weltjugendfestspiele in Wien abzuhalten, der Hauptstadt des neutralen Österreich und Nachbarland des schwergeprüften Ungarn. Diese »Festspiele der Jugend und der Studenten« sind den Olympischen Spielen nachempfunden und vereinen jugendliche Sportler aus verschiedenen Ländern, nicht zuletzt aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Natürlich sind auch die kommunistisch regierten Länder Osteuropas stark vertreten und die Länder, in denen die kommunistischen Parteien stark sind wie Frankreich und Italien. Die österreichischen Zeitungen mit Ausnahme der kommunistischen Volksstimme einigen sich darauf, dieses Ereignis zu ignorieren. Man wird darüber einfach nicht berichten.
Große Diskussion in der Redaktionskonferenz. Denn es heißt, dass auch Jean-Paul Sartre, damals Sympathisant der Kommunistischen Partei Frankreichs, nach Wien kommen wird. Was sollen wir da machen? Sartre ist eine Weltberühmtheit. Ihn auch ignorieren? Ja, ist die einhellige Meinung. Und was, wenn er ausgerechnet in Wien eines Tages von der Straßenbahn überfahren werden sollte? Schwierige Frage. Dann hat jemand die rettende Idee. Wir schreiben eine Lokalmeldung: »Der Schriftsteller Jean Paul S. wurde am Donnerstag in der Westbahnstraße von der Straßenbahn der Linie 49 überfahren und verletzt.« Und fertig. Das Dilemma bleibt uns erspart. Sartre kommt am Ende doch nicht.
Die Kommunistenfestspiele sind schlecht, aber soll man die vielen jungen Leute, die da in ein freies Land kommen, auch ignorieren? Die Jugendorganisationen planen Gegenveranstaltungen, in denen Demokratie propagiert werden soll. Und es wird eine Anti-Festivalzeitung herausgegeben, in mehreren Sprachen, die an die Teilnehmer gratis verteilt werden soll. Sie wird bei uns im Pressehaus produziert. Junge Journalisten aus Amerika bilden die Redaktion, unter ihnen auch eine schöne Blondine namens Gloria Steinem. Sie wird später die Frontfrau der amerikanischen feministischen Bewegung.
Es gibt Kommunisten im friedlichen Österreich, aber es gibt auch Rechtsradikale. Im Jahre 1959 jährt sich zum zweihundertsten Mal der Geburtstag von Friedrich Schiller, dem deutschen Freiheitsdichter. Die deutschnationalen Verbände im Lande nehmen das zum Anlass für eine große Manifestation. Man will zeigen, dass man sich der deutschen Nation zugehörig fühlt und mit dem neueingeführten verhassten Begriff der österreichischen Nation nichts am Hut hat. Es wird eine große Sache. Die Ringstraße ist abgesperrt. Und in langem Zuge marschieren Männer und Frauen daher. Man sieht viele Kriegsorden. Und viele Hakenkreuze. Es ist alles sehr zackig. Die »Schillerfeier«
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