Zuhause ist ueberall
bürgerlichen Welt. Der österreichische Staatsvertrag ist unter Dach und Fach. Oper und Burgtheater spielen wieder. Der Opernball ist ein großes Ereignis. Die ausländischen Diplomaten sind wieder da, und in den diversen Botschaften und Gesandtschaften entwickelt sich ein reges gesellschaftliches Leben.
In der Lokalredaktion der Wiener Tageszeitung Die Presse 1958: Thomas Chorherr (links) und Hans Zerbs
Wir bringen eine Serie über die ausländischen Vertretungen in Wien. Ich werde ausgeschickt, um den Konsul eines kleinen lateinamerikanischen Landes zu interviewen. Es zeigt sich, dass es ein älterer jüdischer Geschäftsmann ist, der in jenem Land in der Emigration war und dieses jetzt in Österreich vertritt. Was ich und auch mein neuer Lokalchef Thomas Chorherr von diesem Interview erwarten, ist eine Geschichte über glänzende Diplomatenempfänge, die Schönheit Wiens, die guten Beziehungen Österreichs zum Land des Konsuls und zur Welt im Allgemeinen. Aber dazu ist mein Gesprächspartner nicht ganz der Richtige. Er blickt mich ein bisschen skeptisch an und denkt vermutlich, wie einst Otto Mauer: Ihr Jungen habt wirklich von nichts eine Ahnung. Und erzählt ein wenig vom »Anschluss« Österreichs, von Hitlers Empfang auf dem Heldenplatz, vom Novemberpogrom, von den brennenden Synagogen und von den Wiener Juden, die die Straßen waschen mussten. Ich bin starr. Das habe ich alles so noch nie gehört. Dass es diese Ereignisse gab, weiß ich wohl, aber nur vage und gleichsam abstrakt. Plötzlich sind sie real und haben ein Gesicht, das Gesicht des älteren Herrn, der mir da gegenübersitzt. Und meine vorbereiteten Fragen kommen mir auf einmal unsäglich banal und albern vor. Ist mein Interview je erschienen? Ich weiß es nicht mehr.
Ich bin jung, ich bin eine Frau, und Herr Derka teilt mir die sogenannten weiblichen Themen zur Berichterstattung zu. Ich schreibe über eine Hundeausstellung, über durchreisende Filmschauspieler, über neue Kindergärten. Aber einmal ist der zuständige Reporter nicht da, und ich werde zu einem Straßenbahnunfall geschickt, bei dem der Fahrer zu Tode gekommen ist. Bei den Wiener Blättern ist es üblich, dass man in solchen Fällen zur Familie geht und ein Foto des Verunglückten erbittet. Ich tue das und erkenne zu meinem Entsetzen, dass die Frau des Straßenbahners vom Tod ihres Mannes noch nichts weiß. Ausgerechnet ich, die neugierige Reporterin, bin es, die ihr diese Nachricht überbringen muss. Wir sitzen gemeinsam in der Küche der Gemeindewohnung, die Straßenbahnerfrau und ich, und heulen. Und ich denke mir: Nie wieder so was.
Mit Politik haben wir Lokalreporter nichts zu tun. Das tut mir nicht leid. Unsere Kollegen von der Innenpolitik können nicht einmal davon träumen, den Politikern kritische Fragen zu stellen oder politische Entwicklungen zu hinterfragen. Erst Bruno Kreisky führt Jahre später ein, dass die Journalisten nach dem Ministerrat den Regierungsmitgliedern spontan Fragen stellen dürfen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren ist ein Interview mit dem Bundeskanzler eine Gnade, die auserwählten Journalisten gewährt wird; die Fragen müssen vorher schriftlich eingereicht werden.
Aber im Jahre 1956 gibt es ein politisches Ereignis, das uns alle elektrisiert: der Aufstand in Ungarn. Atemlos verfolgen wir am Radio, wie die Intellektuellen vom Petőfi-Klub Meinungsfreiheit verlangen und durchsetzen, wie der verhasste Parteichef Rákosi gestürzt wird, wie es eine kurze Weile nach Reform aussieht und wie schließlich die Russen intervenieren und alles kaputt schießen. Unser Chefredakteur Fritz Molden, in jungen Jahren ein Abenteurer, ist jetzt wieder in seinem Element. Er fährt nach Ungarn und liefert spannende Reportagen. Er interviewt den später hingerichteten Revolutionshelden Pál Maléter und erlebt das Einrücken der sowjetischen Panzer. Ich wäre liebend gern nach Ungarn gefahren, doch das kommt natürlich gar nicht in Frage. Aber ich darf über die Hilfe berichten, die den ungarischen Flüchtlingen in Österreich zuteil wird. Und die ist wirklich beachtlich.
Leopold Ungar und seine Caritas übertreffen sich selbst. Scharen von Freiwilligen melden sich und schwärmen aus, an die Grenze, ins große Flüchtlingslager Traiskirchen, in zahllose Hilfsstellen, wo Essen, Kleidung und Medikamente ausgegeben werden. Plötzlich wird deutlich, wie viele Menschen es in Wien gibt, nicht zuletzt in den Kreisen der sogenannten Gesellschaft, die aus familiären
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