Zum ersten Mal verliebt
auch ein Weiberheld!«
»Ist er nicht!«, sagte Rilla hochnäsig, soweit das zwischen zwei Schniefern möglich war.
»Na, warte mal, bis du so alt bist wie ich, dann kennst du die Männer besser«, sagte Mary von oben herab. »Pass bloß auf, denen darfst du nicht alles glauben. Ken Ford meint wohl, er braucht nur sein Taschentuch fallen zu lassen, dann hat er dich am Kragen. Bleib bloß bei Verstand, liebes Kind!«
Wie kam diese Mary Vance dazu, sie so zu bevormunden! Das war ja nicht zum Aushalten! Und auf einer steinigen Straße mit Blasen an den nackten Füßen herumzulaufen, das war genauso wenig zum Aushalten! Und dauernd heulen zu müssen und kein Taschentuch zu haben, das war noch weniger zum Aushalten!
»Ich mach« - schnief - »mir nichts aus Kenneth« - zweimal schnief - »Ford!«, rief Rilla in ihrer Not.
»Kein Grund, gleich die Nerven zu verlieren, Kindchen. Du solltest ruhig auf das hören, was ältere Leute dir raten. Ich habe jedenfalls genau gesehen, wie du dich mit Ken zum Sandstrand davongemacht hast und ewig nicht zurückkamst. Deiner Mutter würde das nicht gefallen, wenn sie’s wüsste.«
»Ich erzähle meiner Mutter alles, und Miss Oliver auch, und Walter auch«, brachte Rilla schniefend hervor. »Du hast dafür stundenlang mit Miller Douglas auf der Hummerfalle rumgehockt, Mary Vance! Was würde wohl Mrs Elliott sagen, wenn sie das wüsste?«
»Ich hab keine Lust, mit dir zu streiten«, erwiderte Mary betont hochmütig. »Ich kann dazu nur sagen, warte, bis du erwachsen bist, ehe du mit so was anfängst.«
Rilla gab es jetzt auf ihre Tränen zu verbergen. Alles war dahin! Wenn sogar über das traumhafte, romantische Zusammensein mit Kenneth im Mondschein schlecht gesprochen wurde! Wie sie diese Mary Vance hasste!
»He, was ist denn los?«, fragte Mary verwirrt. »Wieso heulst du denn?«
»Meine Füße - tun so weh«, schluchzte Rilla, um wenigstens ein letztes Quentchen Stolz zu retten. Zuzugeben, dass man wegen weher Füße weinte, war ziemlich kindisch. Dass man aber weinte, weil jemand sich mit einem bloß amüsiert hatte, weil einen die Freunde vergessen hatten und weil andere Leute immer alles besser wissen mussten, das brauchte niemand zu wissen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Mary etwas freundlicher. »Mach dir nichts draus. In Cornelias Vorratskammer steht ein Topf Gänsefett, das ist besser als alle Luxussalben dieser Welt. Davon tue ich dir was auf deine Fersen, bevor du schlafen gehst.«
Gänsefett auf den Fersen! So also endete die erste Party und das erste Rendezvous im Mondschein!
Rilla hörte auf zu weinen. Tränen vergießen nützte ja auch nichts. Geknickt legte sie sich in Mary Vances Bett schlafen. Während es draußen noch stürmte, kam schon das Morgengrauen heran. Captainjosiah hielt Wort und hisste den Union Jack auf dem Leuchtturm von Four Winds. Gegen den bewölkten Flimmel und dem Sturm trotzend, flatterte die Fahne wie ein prunkvolles, unauslöschliches Leuchtfeuer.
Abschiedsstimmung
Rilla lief durch das sonnige Ahornwäldchen hinterm Haus zu ihrem Lieblingsversteck im Regenbogental. Dort ließ sie sich auf einem moosbewachsenen, von Farn umgebenen Stein nieder. Sie stützte den Kopf auf und starrte mit leerem Blick in den blendend blauen Augusthimmel. Er wölbte sich so unverändert blau und friedlich über das Tal wie jedes Jahr im Spätsommer, seit sie denken konnte. Sie wollte allein sein, nachdenken und sich, soweit das möglich war, einstellen auf die neue Welt, in die sie so plötzlich versetzt worden war, dass sie kaum noch wusste, wer sie eigentlich war. War sie dieselbe Rilla Blythe, die noch vor einer Woche auf dem Leuchtturm getanzt hatte - vor einer Woche erst? War das wirklich sie gewesen? Es kam Rilla so vor, als wäre in der einen Woche so viel passiert wie in ihrem ganzen Leben zuvor. Und wenn man die Zeit nach der Anzahl der Herzschläge maß, dann stimmte das auch. Jener Abend damals, der so voller Hoffnung war und Angst, so voller Triumph und Demütigung, er kam ihr vor wie aus längst vergangener Zeit. Hatte sie wirklich geweint, bloß weil man sie vergessen hatte und sie mit Mary Vance nach Hause laufen musste? Ach, dachte Rilla traurig, wie dumm ist es doch, wegen einer solchen Kleinigkeit Tränen zu vergießen. Jetzt hätte sie allen Grund zu weinen, aber das würde sie nicht tun. Sie durfte es einfach nicht! Was hatte ihre Mutter gesagt, mit blutleeren Lippen und kummervollem Blick, so wie Rilla sie noch nie erlebt
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